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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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stand sie vor dem Spiegel und sang »Boum«, »La Java du diable« oder »J’ai ta main« – sie konnte sie alle auswendig.
     
    Der Sonntagmorgen war lange Zeit dem Schmusen vorbehalten gewesen: in Zweiergruppen (Lisbeth und Barthélémy, Lucile und Antonin, Milo und Justine) durften sie sich für jeweils zwanzig Minuten in das warme Bett von Liane und Georges kuscheln und sich mit ihren kleinen Körpern an ihre Eltern schmiegen. Doch nach Antonins Tod, nach der Rückkehr aus den Ferien in L., wurde das Ritual nicht fortgesetzt.
    Zwei Jahre zuvor hatte Georges seine eigene Werbeagentur gegründet, er versuchte, neue Kunden zu gewinnen, und arbeitete unablässig. Wochentags sahen die Kinder ihn kaum. Er kam spätabends, nachdem sie zu Abend gegessen hatten, nach Hause, küsste sie nacheinander mit demselben abwesenden Gesichtsausdruck, und jeden Abend, wenn sie einer nach dem anderen in ihren bunten Schlafanzügen weggingen, wurde er auf dieselbe heimtückische Art daran erinnert, dass Antonin nicht da war: Es fehlte immer einer. Georges hatte sich verändert. Nicht plötzlich und radikal, sondern ganz langsam und allmählich, als hätte ihn eine dumpfe Verbitterung übermannt, deren Sieg anzuerkennen er sich beharrlich weigerte. Georges hatte nichts von seiner Verve, seinem Wortwitz und seinem kritischen Geist verloren. Seine Spottlust und sein unbarmherzig scharfer Blick waren noch intakt. Georges hatte sogar an Scharfblick gewonnen, was er an Zärtlichkeit eingebüßt hatte. Bei den Abendessen und Abendeinladungen brachte er die Leute zum Lachen und fesselte nach wie vor die Aufmerksamkeit. Das Wort war Ausdruck seiner Macht und Stärke. Georges drückte sich entschieden, genau und gewählt aus. Bei anderen geißelte er jeden Grammatik- und Syntaxfehler und jedes falsch gebrauchte Wort. Georges beherrschte die französische Grammatik bis zur Perfektion und kannte jedes umgangssprachliche Wort. Manchmal überkam ihn bei einer Abendeinladung, einem Gespräch oder einem schlechten Film ein bitterer Nachgeschmack, und bald bildete sich in seiner Kehle ein unablässig anschwellender Zorneskloß.
     
    Eines Tages, als er mehrere Minuten ins Leere gestarrt hatte, ohne den Lärm in seiner Umgebung zu bemerken, war Lisbeth besorgt zu ihrer Mutter in die Küche gegangen.
    »Der da ist nicht Papa.«
    »Wie meinst du das?«
    »Das ist ein Mann, der eine Maske aufgesetzt hat und Papa ähnlich sieht. Aber ich bin sicher: Das ist er nicht.«
    Abends beobachtete Georges seine Kinder und diesen kleinen Jungen, den er ins Haus geholt hatte, der ebenso brünett war wie die anderen blond, diesen sanften, furchtsamen kleinen Jungen, der seinem Blick nun schon seit mehreren Wochen auswich. Georges beobachtete seine Familie und dachte an die Entscheidungen, die er getroffen hatte. Er hatte eine Frau geheiratet, die vor allem den Wunsch hatte, Kinder in die Welt zu setzen und aufzuziehen. Viele Kinder. Er gehörte nicht zu denen, die immer schwanken und nörgeln und kleinlich sind. War kein ängstlicher Knicker, der sich immer auf der sicheren Seite hält. Er hatte nicht genug Geld, na und? Er würde schon welches auftreiben. Er hatte nicht genug Platz? Dann würde er eben die Wohnung vergrößern, indem er Schrankbetten baute. Das Leben brauchte sich nur nach seinem Verlangen zu richten; sein Verlangen war enorm. Der Raum war erfüllt von Lärm, Geschrei und Gezänk. Er brauchte diese Menge, diese Fülle. So ging es ihm auch mit den Frauen, obwohl er nur eine liebte. Bislang hatte ihm keine widerstehen können. Und es gab noch so viele Körper zu entdecken. Aber im Grunde – und das war es vermutlich, woran Georges abends dachte, während er verloren auf das Parkett starrte – war er, wo immer er sich befand, ob in den Armen der Frauen, mitten an einer langen Tafel zwischen seinen Freunden oder am Steuer seines Wagens, mit dem er irgendwelche Abkürzungen nahm, ja, ganz gleich wo, immer war er im Grunde allein.
     
    Liane begann wieder zu lachen und zu singen. Als junges Mädchen hatte sie ein ganzes Repertoire von Abzählreimen und Liedern gelernt, die sie jetzt ihren Kindern vorsummte, Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch … Manchmal durchfuhr etwas Brennendes ihren Leib, das keine Schwangerschaft würde löschen können. Doch Liane glaubte an den Himmel, an den barmherzigen Gott, an die ewige Ruhe. Eines Tages würde sie ihren Sohn im Paradies der Menschen oder in einem unbekannten watteweichen

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