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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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sie Distanz hielt, ihn wie einen Fremdkörper beobachtete und sich überwinden musste, ihn zu berühren. Sie wollte weder am Tisch noch im Wagen, noch in der Metro neben ihm sitzen. Jean-Marc war sonderbar, er sprach eine andere Sprache, verhielt sich anders. Lucile liebte Jean-Marc nicht, aber sie hatte sich an ihn gewöhnt. Jean-Marc gehörte in ihre Umgebung, er hatte seinen Platz darin gefunden. Um nichts in der Welt hätte sie seine Anwesenheit in Frage gestellt. Er war da, er war vor seiner Herkunftsfamilie geschützt und versuchte sich an ihre anzupassen, an ihre Codes, ihren Zeitplan und ihr Vokabular. Außerdem hatte Lucile etwas mit ihm gemeinsam, wovon die anderen nichts wussten. Denn auch Lucile hatte Angst. Angst vor Lärm, vor dem Schweigen, vor Autos, vor Kinderdieben, Angst zu fallen, sich das Kleid zu zerreißen oder etwas Wichtiges zu verlieren. Sie wusste nicht, wann die Angst angefangen hatte. Sie war immer da gewesen. Lucile brauchte Lisbeths Anwesenheit, um das Flurlicht einzuschalten und den Hof des Wohnhauses zu überqueren, sobald es dunkel war. Sie brauchte Lisbeth, Lisbeth musste ihr Geschichten erzählen, wenn sie nicht einschlafen konnte, und hinter ihr stehen, wenn sie eine Leiter hinaufkletterte. Barthélémy machte sich über sie lustig. Er konnte das nicht verstehen. Barthélémy forderte seine Mutter heraus und kam auf immer neue Heldentaten, er kletterte über Mauern, entzog sich der Aufsicht und verschwand. Nichts konnte ihm Angst machen, nichts seinen Schwung bremsen. Als man ihn einmal in die Ecke gestellt hatte, riss er vor den Augen seiner verblüfften Eltern fein säuberlich die Tapete ab. Und wenn Liane so erschöpft und mit den Nerven am Ende war, dass sie ihn in die Toilette einschloss, kletterte er aus dem Fenster und balancierte auf dem Sims, den Rücken fest an die Hauswand gepresst, rings um den Hof, um in sein Zimmer zurückzugelangen. Die Nachbarn sahen den Jungen über dem Abgrund stehen und schrien. Doch Barthélémy liebte die Höhe, er erweiterte sein Territorium von der Regenrinne zur Traufe, von der Traufe zum Vordach und war bald in der Lage, von der Nummer  15  a der Straße bis zur Nummer  25 über die Dächer zu gehen.
     
    Wenn man sich etwas wünschen musste, weil gerade ein erstes Mal war – erste Erdbeeren, erster Schnee, erste Schmetterlinge –, dachte Lucile immer an dasselbe. Sie träumte davon, unsichtbar zu werden: alles zu sehen, alles zu hören und zu erfahren, ohne dass ihre Anwesenheit an irgendetwas Greifbarem zu erkennen wäre. Sie wäre dann nur noch eine Bewegung, ein Hauch oder vielleicht ein Duft, nichts, was man anfassen oder festhalten könnte. So weit sich Lucile zurückerinnern konnte, hatte sie die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kaum waren die Erwachsenen ins Zimmer gekommen oder auf dem Bürgersteig stehen geblieben, schon beugten sie sich entzückt über sie, nahmen ihre Hand, streichelten ihr über das Haar und ergingen sich in Feststellungen und Fragen: Was für ein hinreißendes kleines Mädchen, sie ist ja so hübsch, wie schön sie ist, sie sieht so brav aus – lernst du auch fleißig in der Schule? Seit der Plakatwerbekampagne für die Intexa-Textilien war Lucile ein
Kinderstar.
Sie war in Pierre Tchernias Fernsehsendung
La Piste aux étoiles
aufgetreten und dann bei Georges Cravennes Großveranstaltung am Eiffelturm, bei der sie auf Brigitte Bardots Schoß fotografiert wurde. Alle großen Kleidungsmarken wollten sie haben. Georges und Liane nahmen nur einige Angebote an. In manchen Monaten half das Geld der Werbeaufnahmen, die Miete zu bezahlen, doch Lucile sollte weiterhin zur Schule gehen.
    In ihrer Klasse hatte Lucile seit der Löschblatt-Aktion keine Chance mehr, in der Masse unterzugehen. Sie machte Bekanntschaft mit Bewunderung, Neid und Missgunst, die sich derart kompakt um sie ballten, dass es ihr lästig wurde. Lucile erkannte, dass ihr manche Mädchen näher kommen, sich einen Platz an ihrer Seite sichern wollten, aber sie erkannte auch, mit welcher Verbissenheit sie an ihr irgendeinen Makel oder eine alberne Schwäche zu entdecken versuchten, die ihr Bild befleckt und es den anderen erlaubt hätte, sie niederzumachen. Lucile war trotz allem stolz. Stolz, Geld zu verdienen und ausgewählt worden zu sein, und stolz, weil Georges stolz auf sie war und sich über ihren Erfolg freute.
     
    Wenn es ihr gelang, allein zu sein, hörte Lucile Platten mit den Chansons von Charles Trenet. Lächelnd und gut frisiert

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