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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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beobachtete ihn. Jetzt, wo er gebräunt war, wirkten die Narben auf seinen Beinen noch weißer, sie leuchteten beinahe. Jean-Marcs wirkliche Mutter hatte ihn lange dazu gezwungen, sich in die Glut im Kamin zu knien. Der Arzt hatte Liane gesagt, der Junge würde diese Brandmale sein ganzes Leben behalten, es sei nichts dagegen zu machen. Jean-Marc blickte unsicher zu ihr auf. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Zärtlichkeit ihm gegenüber, fast hätte sie ihn in die Arme genommen.
    »Möchtest du auch eins?«
    Jean-Marc nickte. Lucile holte die Münzen aus ihrer Tasche, und Barthélémy, ganz Mann von Welt, rief nach der Kellnerin.
    »Mademoiselle? Bitte noch einmal das Gleiche für den jungen Mann.«
    Selbstsicher und eine Spur autoritär – Barthélémy imitierte seinen Vater. Jean-Marc konnte sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen. Viel mehr als die Aussicht auf ein Bananensplit, das er womöglich gar nicht schaffen würde, freute ihn, dass er neben Barthélémy und Lucile auf der Terrasse des Eissalons sitzen durfte.
    Lucile lächelte ihm zu.
    »Ich hab dich heute schwimmen sehen. Du schwimmst schnell.«
    Jean-Marc antwortete nicht. Barthélémy ging noch weiter, obwohl er einen kleinen Stich der Eifersucht spürte.
    »Du könntest an Wettbewerben teilnehmen.«
    Eine Vorstellung, die Lucile gefiel.
    »Dann wirst du Weltmeister, und deine Mutter sieht dich in der Zeitung, dich in einer schicken Badehose. Da wird sie sich vielleicht die Augen reiben. Und dann wird sie sich schrecklich ärgern!«
    »Vor allem wirst du sehr reich, ein echter Krösus!«, fügte Barthélémy hinzu, er hatte diesen Ausdruck von seinem Vater und fand ihn sehr witzig.
    »Stell dir vor, du auf der Titelseite, mit dicken Muskelpaketen, und deine Mutter, wie sie zittert vor Angst bei dem Gedanken, du könntest dich an ihr rächen!«
    Als Lucile das sagte, stand Barthélémy auf und baute sich mit geschwellter Brust und gespreizten Beinen vor ihnen auf wie ein Gewichtheber vor seinem Publikum. Alle drei lachten schallend.
    Die Kellnerin stellte Jean-Marc einen Eisbecher hin. Der erschien ihm noch riesiger als die anderen. Er warf Lucile einen erlaubnisheischenden Blick zu, dann machte er sich, in schweigendem Genuss und mit der Sahneschicht beginnend, über sein Eis her.

[home]
    E s war Herbst geworden, und Lucile hatte den Eindruck, dass die Dinge zwar nicht in ihre ursprüngliche Ordnung zurückfanden, sich aber doch besänftigten: Der sichtbare Teil des Kummers hatte sich im ablaufenden Spül- und Waschwasser aufgelöst, und Lianes Bauch war schon seit mehreren Monaten leer. Jean-Marc hatte seinen Platz am Tisch und im Jungenzimmer gefunden, er schrie nicht mehr mitten in der Nacht und blickte nicht mehr zu Boden, wenn man mit ihm sprach. Jean-Marc war jetzt im Rahmen, er lächelte auf den Fotos und war mit seiner Umgebung verschmolzen, als wäre er immer da gewesen. Sie hatten vergessen, dass er von anderswoher kam. Lucile dachte, ihre Familie habe vielleicht ihre endgültige Form gefunden, drei Jungen, vier Mädchen, eine Konstellation, die ihr in Anbetracht des verfügbaren Wohnraums absolut ausreichend erschien und ihr einen ehrenvollen Platz unter den Älteren sicherte. Was immer geschah, sie blieb der Liebling ihres Vaters, diejenige, auf die Georges’ Blick zuerst fiel, die immer von ihm ermutigt wurde und mit seinem Lächeln und seiner Nachsicht rechnen durfte, obwohl sie wenig schulischen Eifer an den Tag legte und mäßige Noten mit nach Hause brachte. Besser als jeder andere erkannte Georges den einzigartigen Verstand seiner Tochter, ihr treffendes Vokabular und die Schärfe ihres Blicks. Lucile hoffte, dass es so weitergehen würde, in dieser sich stabilisierenden unsichtbaren Geometrie, die sie untereinander verband und an die sich jeder angepasst zu haben schien. Sie spürte ein seltsames Bedürfnis nach Dauer und fürchtete jedes Aufbrechen, Weggehen und Fernsein.
     
    Als ihre Eltern den Kindern mitteilten, Kunden von Georges hätten sie nach London eingeladen und sie würden für ein Wochenende dorthin fahren, nahm Lucile diese Neuigkeit auf wie die Ankündigung eines unmittelbar bevorstehenden Erdbebens. Ein ganzes Wochenende. So viel Zeit erschien ihr nicht zu überstehen, und bei der Vorstellung, während Lianes und Georges’ Abwesenheit könne ein schlimmer Unfall geschehen, wurde ihr die Luft knapp. Mehrere Minuten lang sah Lucile ins Leere, ganz den Schreckensvisionen hingegeben, die sie nicht aus ihrem

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