Das Lächeln meiner Mutter
warmen Raum wiedersehen. Als Violette einige Wochen nach Antonins Beerdigung zur Welt kam, noch draller und kräftiger als ihre anderen Kinder, dachte Liane, Gott habe ihr ein Zeichen geschickt. Oder ein Geschenk. Violettes Geburt hatte ihren Kummer in einen Schleier aus Müdigkeit und Erfüllung gehüllt. Violette nahm Lianes gesamte Energie in sich auf und erhielt sie zugleich am Leben. Liane liebte Säuglinge, den Geruch ihres Nackens, die winzigen Fingerchen und die Milch, die mitten in der Nacht für sie aus ihrer Brust floss. Liane wurde völlig von dem Baby, von seinen nächtlichen Wachphasen und seinen gierigen Bedürfnissen in Anspruch genommen. Und Violette schenkte ihr ihr Lallen, ihr Lächeln und ihren Blick. Doch wenn ihre ganz kleine Tochter Justine, die noch keine drei war, die Arme nach ihr ausstreckte oder sich an ihre Röcke klammerte, wehrte Liane sie ab. Justine wollte ihre Mutter und verlangte den ihr zustehenden Anteil. Doch dafür hatte Liane keine Kraft mehr. Sie konnte nicht mehr.
Die anderen waren groß. Sie kamen zurecht. Lisbeth übernahm ihre Rolle als Älteste, half ihrer Mutter beim Kochen, spülte das Geschirr, passte auf die Kleinen auf. Barthélémy verbrachte die meiste Zeit außer Haus, pfiff auf den lieben Gott und fand immer einen Weg, die Messe zu schwänzen. Milo spielte mit Jean-Marc und sammelte Autos und Spiel-Knöchelchen, Lucile beobachtete die Erwachsenen, ließ sich kein Wort ihrer Unterhaltungen entgehen und speicherte alles ab.
Mehr als alle anderen war Lucile Georges’ Tochter. Sie sah ihrem Vater ähnlich, hatte seinen Humor, seinen Blick, seine Intonation. Liane wäre gern imstande gewesen, sie besser zu lieben, ihr Vertrauen zu stärken und die Festung ihres Schweigens zu brechen. Stattdessen blieb Lucile dieses geheimnisvolle Kind, das zu schnell gewachsen war und das sie nicht mehr in die Arme nahm.
Bald würde Lucile lebhafter, intelligenter, geistreicher sein als sie selbst. Liane wusste nicht, wann ihr dieses Gefühl zum ersten Mal gekommen war. Und Lucile beobachtete sie weiterhin, in dieser Art, als wüsste sie alles, ohne etwas gelernt zu haben, dieser Art, zugleich da und nicht da zu sein, ein Parallelleben zu dem der anderen zu führen und manchmal über sie zu urteilen.
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D ie Geldstücke blieben unter der Oberfläche, ganz knapp darunter, sie sanken kaum in den Sand ein. Man brauchte den Sand bloß vorsichtig mit den Händen oder einem kleinen Rechen zu harken. Lucile schrie auf und schwenkte ihren Fund, begierig auf eine Reaktion ihres Bruders. Barthélémy pfiff anerkennend. Sie fügte die Münze ihrer Wochenausbeute hinzu: fünfzehn Franc in Kleingeld. Jeden Abend, wenn der Strand sich geleert hatte, gingen sie noch einmal zu den Turngeräten und durchkämmten den Sand. Den ganzen Tag über waren die Urlauber auf der Sprossenwand herumgeklettert, hatten sich kopfüber aufgehängt, auf den Schaukeln den Zorn der Himmelsgötter herausgefordert und dabei ihre Reichtümer verstreut. Jeden Abend sammelten die Kinder Haarspangen, Münzen und verlorene Schlüsselbunde auf und konnten sich damit ein oder zwei Tüten Pommes frites oder, wenn der Tag besonders ertragreich war, sogar eine Kinokarte leisten. Dieses Mal hatte Lucile Glück gehabt. Sie steckte das Geld wieder in die Tasche. Nun sichtete auch Barthélémy seine Ernte. Wenn er das am Vormittag aus Lianes Portemonnaie stibitzte Geld dazurechnete, war er ein echter Krösus.
»Ich lade dich ein!«, verkündete er Lucile.
Sie folgte ihrem Bruder, ohne zu wissen, wohin. Sie gingen über die Promenade, und dann blieb Barthélémy auf der Terrasse eines Eissalons stehen. Lucile sah sich um. Das Lokal erschien ihr äußerst schick.
»Bist du sicher, dass du genug dafür hast?«
»Keine Sorge …«
Barthélémys zurückgekämmtes Haar betonte die erstaunliche Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge. Er saß aufrecht, leicht zurückgelehnt und mit einem Arm auf der Lehne, eine lässige, entspannte Haltung, dachte er, die Haltung eines jungen Mannes. Als er zwei Bananensplit bestellte, sah ihn die Kellnerin verblüfft an und fragte, ob er genug Geld habe. Als er ihr die Münzen zeigte, erkundigte sie sich nach den Eltern. Ob die wüssten, dass sie hier seien? Lucile lächelte sie mit ihrem Werbelächeln an, den Kopf leicht zur Seite geneigt und die Hände flach auf den Beinen, mit dieser Bravheit, die sie perfekt vortäuschen konnte, und die Kellnerin ging beruhigt weg. Jetzt war Lucile ganz
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