Das Lächeln meiner Mutter
der Nacht fing Violette an zu weinen. Lisbeth knipste das Licht in dem kleinen Mädchenschlafzimmer an und nahm sie in die Arme, um sie zu wiegen. Violette weinte mit verdoppelter Heftigkeit, der kleine Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Angstvoll sah sie sich in alle Richtungen um. Auch Lucile versuchte sie zu besänftigen, sie streichelte ihr das Haar und küsste ihr die Wangen. Violette brüllte immer lauter, ihr Gesicht wurde immer röter, ihre Stirn brannte. Bald kamen auch die Jungen, vom Geschrei geweckt, in das Zimmer der Mädchen. Sie machten ein Fläschchen, sangen Lieder, stellten das Transistorradio an. Doch Violette schrie wie am Spieß, sie war durch nichts zu trösten. Lucile spürte, wie die Angst in ihr anschwoll, Violettes Schreie hallten durch ihren Kopf und wurden mit jeder Sekunde lauter. Violettes Schreie enthielten eine Botschaft, die Lucile nicht entziffern konnte, wahrscheinlich musste man mit ihr weinen, weinen über das, was nie ausgesprochen werden würde, über den Kummer der Kinder, über die laute Welt, die sich immer schneller drehte, diese Welt voller Gefahren, in der sie ohne Vorwarnung verschwinden konnten. Sie war sicher, dass Violette eine schlimme Krankheit bekommen hatte, sie würde sterben, vor den Augen ihrer Geschwister und durch deren Schuld, sie mussten noch einmal Fieber messen, den Krankenwagen rufen, sie in die Klinik bringen. Lucile liefen die Tränen über die Wangen, doch das blieb in der allgemeinen Aufregung der Geschwisterschar unbemerkt.
Um drei Uhr morgens klingelte Lisbeth erschöpft und ratlos bei den Nachbarn. Sie nahmen Violette in ihre Wohnung, konnten sie schließlich beruhigen und legten sie, als sie wieder eingeschlafen war, zurück in ihr Bettchen.
[home]
N ach der Rückkehr aus den Weihnachtsferien zogen Lucile und Lisbeth in ein Dienstbotenzimmer im sechsten Stock des Hauses. Georges hatte den Vermieter endlich dazu überreden können, das Zimmer leer zu räumen und es ihm gegen ein geringes Aufgeld zu überlassen, die Miete könne er dann erhöhen, wenn die Agentur in ruhigerem Fahrwasser sei. Seit auch Violette ins Schlafzimmer der Mädchen gekommen war und die Zahl der Bewohnerinnen auf vier erhöht hatte, konnte man dort nicht mehr arbeiten. Lisbeth brauchte Ruhe. Dort oben würde sie lernen können. Für Lucile, die es immer noch beharrlich vermied, ihre Schulaufgaben zu machen und ihre Lektionen zu lernen, machte es keinen großen Unterschied, doch Liane hoffte, dass sich die Abgeschiedenheit konzentrationsfördernd auf sie auswirken würde.
Die Dienstbotenkammer war winzig und hatte weder ein Waschbecken noch sonstige sanitäre Einrichtungen. Auf derselben Etage wohnte Gilberte Pasquier, eine junge Frau, die französische Meisterin in Stenographie und Maschinenschreiben gewesen war und von Lucile sehr bewundert wurde. Gilberte Pasquier trug graue Kostüme und schwindelerregend hohe Absätze, und ihre Lippen waren in täglich wechselnden Rosatönen bemalt.
Sobald sie in der Küche den Nachmittagsimbiss, Kakao und Brot mit Butter, eingenommen hatten, rannten Lucile und Lisbeth so schnell wie möglich die Treppe hinauf. Sie waren stolz, in ihre Höhle zurückkehren zu können, und sich des Privilegs durchaus bewusst, das in der Distanz zur übrigen Familie (vier Etagen) und der Möglichkeit bestand, die Tür abzuschließen. Sie waren in ihrem eigenen Reich, wo Barthélémy nicht mehr in ihren Sachen stöbern konnte, wo sie der Lärm nur noch von ferne und in Wellen erreichte (beispielsweise das Gebrüll Justines, deren Wut enorme Dezibelzahlen erreichen konnte) und wo die Unordnung nur noch ihre eigene war. Lisbeth erzählte von ihrem Tag, von ihren Freunden und Lehrern, während Lucile nichts erzählte, aber ihrer Schwester manchmal die Liebesbriefe zeigte, die sie bekam, zuletzt den eines Mädchens aus ihrer Klasse, der sie wegen seines literarischen Niveaus und poetischen Stils beeindruckt hatte. Georges hatte ein Etagenbett in das Zimmerchen gestellt und einen selbstgebauten Klappschreibtisch, an dem Lisbeth, auf dem unteren Bett sitzend, ihre Aufgaben machen konnte. Währenddessen lauschte Lucile auf Gilberte Pasquiers entschlossenen Schritt, der unter tausend herauszuhören war, und ging dann genau in dem Augenblick, in dem Mademoiselle Pasquier vor ihrer Tür anlangte, hinaus auf den Treppenabsatz, um sie zu grüßen. In wenigen Sekunden registrierte sie dann alles, Farben, Kleidungsstücke, Strümpfe und Make-up. Eines
Weitere Kostenlose Bücher