Das Lächeln meiner Mutter
Kopf vertreiben konnte, Schocks, Stürze, Verbrennungen, die jedem einzelnen ihrer Geschwister zustießen, bevor sie sich selbst unter die Metro geraten sah. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie verwundbar sie alle waren, dass das Leben im Grunde nur an einem Faden hing, an einer Unachtsamkeit, einer Sekunde zu viel oder zu wenig. Alles, vor allem das Schlimmste, konnte geschehen. Die Wohnung, die Straße und die Stadt boten unendlich viele Gefahren, Unfallmöglichkeiten, nicht wiedergutzumachende Tragödien. Liane und Georges hatten kein Recht dazu. Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, und trat einen Schritt zurück, um sich hinter Lisbeth zu verstecken, die ihrem Vater aufmerksam zuhörte.
Georges gab weitere Erläuterungen zur Gestaltung des Wochenendes, das ganz unter der Verantwortung ihrer ältesten Schwester stehen sollte und ihnen eine ideale Gelegenheit bot, zu beweisen, wie reif sie alle schon waren. Die Großen sollten sich um die Kleinen kümmern, ihnen Essen machen, mit ihnen in den Park gehen und die allgemeine Haushaltsführung und die Abwicklung des Programms gewährleisten, das Liane, gleich neben dem Menü für die einzelnen Mahlzeiten und den Empfehlungen für die Resteverwertung, ausführlich auf einem karierten Block notiert hatte. Georges’ Kollegin Marie-Noëlle würde sie an diesem Wochenende mindestens einmal besuchen und außerdem jederzeit erreichbar sein. Ob sie es alle verstanden hätten?
Der zulässige Aktionsradius war derselbe wie sonst auch: Rue Clauzel, Rue Milton, Rue Buffault, Square Montholon. Der Square d’Anvers war verboten.
Lisbeth nickte, und Barthélémy setzte seine ernsthafteste Miene auf, als er ebenfalls nickte. Lucile beobachtete sein Gesicht und meinte zu erraten, wie sehr ihn die Aussicht auf ein elternloses Wochenende elektrisierte. Sie wischte sich die Wangen mit dem Handrücken trocken, doch jetzt liefen ihr Schauer über den Körper. Sie hatte Angst. Nur sie allein hatte Angst. Nur sie wusste, wie sehr ihr Leben von Brettern abhing, die unter ihren Füßen nachgaben, von blinden Autofahrern, von tiefen Stürzen. Die Schreie ihrer Cousins aus der Ferne wurden immer lauter, doch niemand schien sie zu hören: »Sie sind gefallen, sie sind gefallen!«
Als es so weit war, begleiteten Liane und Georges die Abschiedsküsse mit Ermahnungen für jeden Einzelnen. Barthélémy wurde aufgefordert, seiner Schwester zu gehorchen und auf keinen Fall aus dem Fenster zu klettern. Lucile wurde dazu ermuntert, nicht nur zu lesen, sondern auch im Haushalt mitzuhelfen, und die Kleinen, brav zu sein und beim Spielen keinen Lärm zu machen. Die Anweisungen für die Zubereitung von Violettes Fläschchen waren schriftlich festgehalten und Lisbeth zu treuen Händen übergeben worden.
Lucile weinte nicht, als sie die Tür hinter sich zuzogen. Sie winkte aus dem Fenster und sah zu, wie ihre Eltern in den Wagen einstiegen, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Als das Auto aus ihrem Blickfeld verschwand, dachte sie, sie würde sie vielleicht nie wiedersehen. Ihr Zug konnte mit einem anderen zusammenstoßen, die Fähre mitten auf dem Ärmelkanal sinken, das Haus in London abbrennen. Lucile schloss die Augen, um die Katastrophenspirale, in die ihre Phantasie sich hatte ziehen lassen, abzuschütteln. Und wenn sie nun allein blieben, alle sieben, wie der kleine Däumling, der mit seinen Geschwistern im Wald ausgesetzt wurde? Und wenn sie lernen müssten, so zu leben, ohne Geld, ohne Eltern? Lucile sah noch ihre mageren Körper und die zerlumpten Kleider, bevor sie die Augen wieder aufschlug. Sie war allein im Raum. Sie ging in die Küche, wo sie Lisbeth und Barthélémy in unschlüssiger Tatenlosigkeit fand. Sie betrachtete einige Minuten lang ihre Gesichter, die blasser waren als sonst, und ihre unsicheren Bewegungen. Sie fühlten sich nicht als Sieger. Ebenso wie Lucile waren sie von einer großen, vagen Angst erfasst. In der Wohnung war es außergewöhnlich still.
Der Samstag verging ohne jeden Vorfall, alle hielten sich strikt an die hinterlassenen Anweisungen. Jean-Marc machte ein paar Spiele mit Justine und Milo, die so gefügig waren, als stünden sie im Finale des landesweiten Wettbewerbs um den Titel »Bravstes Kind«. Barthélémy war ruhig und häuslich wie nie zuvor. Am Abend schaute Marie-Noëlle vorbei, um sich zu vergewissern, dass sie alles hatten, was sie brauchten. Sie fand alles in bester Ordnung vor und ging beruhigt wieder nach Hause.
In
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