Das Lächeln meiner Mutter
Tages würde sie wie Gilberte Pasquier sein, eine Frau, die die Männer kaum anzuschauen wagen, die sie nur aus der Ferne und in erstarrtem Schweigen bewundern würden.
Danach kehrten die beiden Schwestern zur übrigen Familie zurück, duschten und halfen Liane beim Kochen. Wenn es abends Zeit war, ins Bett zu gehen, brachte Lucile es nicht fertig, allein in das Zimmer hochzugehen. Lisbeth musste den Treppenabsatz überqueren, um Licht zu machen, mit ihr die Treppe hinaufgehen und ihr Geschichten erzählen, bis sie einschlief. Lucile hatte sich zwar das obere Bett ausbedungen, doch als späte Bettnässerin stellte sie die Geduld ihrer Schwester auf eine zu große Probe. Lucile musste also das untere nehmen, und zwar mit der strikten Anweisung, den Keramik-Nachttopf zu benutzen, den sie morgens abwechselnd in die Etagentoilette leerten, wobei Lisbeth es oft auch tat, wenn sie nicht an der Reihe war.
Seit dem Ende der Sommerferien war es Barthélémys Aufgabe, Lucile zum Zahnarzt zu begleiten. Lucile war unmittelbar nach dem Krieg zur Welt gekommen, sie hatte schlechte Zähne. Doch statt zum Zahnarzt zu gehen, machten sie allerlei Umwege, trödelten stundenlang herum oder gingen in ein Kino, sahen sich die Schaufenster an und klauten Bonbons in dem Süßwarenladen an der Ecke. Lucile bewunderte ihren Bruder, seine zunehmende Frechheit und seine Gewandtheit in jeder Situation. Sie war stolz darauf, dass er sie bei seinen Streichen zur Komplizin machte, ihr von seinen Plänen und Geheimnissen erzählte, eher ihr als Lisbeth, denn Lisbeth empörte sich über seine Missetaten und hatte keine Hemmungen, ihn zu verpetzen. Wenn Liane nicht da war, gehörte es zu Barthélémys Lieblingsspielen, seine große Schwester einzufangen, auf den Boden zu pressen und sie unter Androhung schrecklicher Folter dazu zu zwingen, zehnmal hintereinander seinen Vornamen zu nennen: Wer ist der Schönste? Wer der Kühnste? Der Intelligenteste? Der Komischste? Der Geistreichste? Der Wortgewandteste?
Mit Lucile machte er das nie. Lucile beeindruckte ihn. Ein bloßer Blick von ihr brachte ihn von allen Handgreiflichkeiten ab. Lucile war eine Festung der Stille mitten im Lärm. Wegen dieses Ausdrucks von Trauer, der auf ihrem Gesicht zu liegen schien, nannte Barthélémy sie
Blue
oder, an besonders melancholischen Tagen, auch
Blue-Blue.
Manchmal hatte er den Wunsch, sie zu beschützen oder mit ihr weit fortzugehen, irgendwohin, wo sie einfach nur herumlaufen könnten und keinen Fuß mehr in die Schule zu setzen bräuchten.
Manchmal schickte Liane Lucile in die Rue des Martyrs, um dort Besorgungen zu machen. Für jeden eingekauften Artikel behielt Lucile eine ganz kleine Summe ein, praktisch nichts, einen winzigen Prozentsatz Lieferaufschlag. So praktizierte sie eine Art des Kopfrechnens, die weniger trocken war als die Rechenoperationen, die ihr in der Schule beigebracht wurden. Am Monatsende hatte sie gewöhnlich etwa zwanzig Franc, die unverzüglich in Bonbons investiert wurden.
Es hieß, am Square Saint-Pierre gebe es Hexen, die die Kinder in Betttücher hüllten und so für immer verschwinden ließen. Mehrmals lief Lucile die Treppe zur Kirche hinauf, um sie dann mit einer Heidenangst wieder hinunterzurennen. Unten verkauften Straßenverkäufer mit Krepppapier verzierte Sandsäckchen an einem Bindfaden. Sie ließ sie durch die Luft wirbeln und sah dann zu, wie sie als bunte Schmetterlinge wieder nach unten kreisten. Das war Lucile von allen Spielen das liebste.
In der Buchhandlung in der Rue de Maubeuge verbrachte Lucile Stunden vor den Regalen mit Mädchenbüchern. Wenn sie endlich ein Buch gefunden hatte, schob sie es sich unter den Arm, knöpfte den Mantel darüber zu und verabschiedete sich mit einem strahlenden Lächeln von der Dame, nachdem sie ihr erklärt hatte, es sei leider nicht das Richtige für sie dabei gewesen. Jahre später erst begriff Lucile, dass diese freundlich blickende Frau ihre stillschweigende Komplizin bei der Einweihung in die Geheimnisse des Lesens gewesen war.
Eines Nachmittags lud Doktor Baramian, der sich noch nicht von dem Lärm hatte vertreiben lassen, Lucile und Lisbeth in seine Praxis ein, um ihnen sein Tonbandgerät vorzuführen. Sie hatten beide keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gab. Doktor Baramian ließ sie vor dem Mikrophon ein Gedicht aufsagen, und in der Mitte kamen sie aus dem Text. Sie stotterten einige Sekunden lang, versuchten im Chor an derselben Zeile wieder
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