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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Barthélémy nach Antonins Tod abholte und ins Ardèche zurückbrachte, die Justine für einige Zeit bei sich aufnahm, als Liane sich nicht mehr um sie kümmern konnte, und bei ihr rief Liane an dem Tag an, als sie Jean-Marc tot in seinem Zimmer fand. Sie wird mir, wie andere auch, über Lucile sagen: »Sie war ein geheimnisvolles Kind, ein absolutes Geheimnis.«
     
    Auf den Rat von Luciles Geschwistern hin habe ich also einen langen Nachmittag bei Marie-Noëlle verbracht und sie befragt. Heute ist sie eine alte Dame von über achtzig Jahren. Ich bin mir nicht sicher, dass das Wort
alt
angebracht ist, so viel Witz hat sie, und irgendetwas sagt mir, dass genau das Georges von der ersten Begegnung an bezaubert hat: diese sanfte Ironie, die hinter ihren Worten aufscheint, diese Art, verstehen zu geben, dass sie sich nicht hinters Licht führen lässt, dass sie genau weiß, woran sie ist. Später schickte mir Marie-Noëlle noch per Mail einige Details und die Daten, um die ich sie gebeten hatte. Noch später hörte ich mir einige Stunden Aufnahme an, um die Erinnerungen niederzuschreiben, die sie mir anvertraut hatte. Bei der Erwähnung der »Rue de Maubeuge« ist ihr damaliges Gefühl noch präsent, und als mir Marie-Noëlle von der ersten Begegnung mit meiner Großmutter erzählt, steht ihr das Bild offenbar noch vor Augen: Liane, damals mit Justine schwanger und in einen scheußlichen wollenen Morgenmantel gehüllt, öffnet ihr die Tür – blonder Schopf und unübersehbarer Bauch –, und in der Wohnung liegt ein Pissegeruch, den niemand mehr wahrzunehmen scheint (fast alle von Luciles Geschwistern waren lange Bettnässer). Marie-Noëlle möchte meinen Großvater Georges kennenlernen, damals Journalist bei
Radio-Cinéma
 – der Zeitschrift, die einige Jahre später
Télérama
heißen wird. Von einem gemeinsamen Freund weiß sie, dass er daran denkt, eine Werbeagentur zu gründen.
    In dem Durcheinander der Abstellkammer, die ihnen als Büro dienen wird, arbeiten sie die erste Satzung der Agentur aus, bevor sie Geschäftsräume finden. Einige Monate darauf kann Georges endlich ihren ersten Scheck einlösen: Die Agentur hat Visitenkarten für
Le Soulier de Ninon
entworfen und hergestellt, ein Schuhgeschäft, dessen Kundschaft hauptsächlich aus Prostituierten des Pigalle-Viertels besteht. Sie haben das Gebäude kaum verlassen, da schleppt Georges Marie-Noëlle zum italienischen Lebensmittelhändler des Viertels und kauft mit der Hälfte des Geldes genug Lebensmittel, um seine Familie für mehrere Tage zu ernähren. Das Festmahl, zu dem sie eingeladen ist, wird noch am selben Abend verschmaust.
     
    Auch Marie-Noëlle erinnert sich an das Wochenende, an dem Liane und Georges in London waren und sie die Kinder besucht hat. Dieses Wochenende wurde mehrmals und von verschiedenen Personen erwähnt, doch nie als Vorwurf gegenüber meinen Großeltern, jedenfalls nie als expliziter Vorwurf. Wie konnten Liane und Georges, die doch einige Monate zuvor ein Kind durch einen Unfall verloren hatten, so weit wegfahren und so kleine Kinder unbeaufsichtigt zurücklassen? Mit welcher Sorglosigkeit oder mit welchem Leichtsinn unternahmen sie diese Reise? Es macht mich fassungslos. Natürlich sehe ich diese Anekdote unter dem Blickwinkel meiner Epoche. Natürlich habe ich eine relativ unklare Vorstellung von dem Paris der Fünfzigerjahre und davon, wie reif ein elfjähriges Mädchen als Älteste einer siebenköpfigen Geschwisterschar sein konnte. Ich betrachte diese Fakten von meinem Standpunkt aus und mit der von mir unablässig bekämpften Angst, dass meinen Kindern etwas zustoßen könnte. (Diese Angst ist eher überdurchschnittlich, das muss ich zugeben, und ich weiß, dass sie nicht völlig unabhängig von der Geschichte meiner Familie ist.)
    Ich sehe in dieser Reise weniger eine Gedankenlosigkeit als eine Flucht nach vorn, den Beweis für das unverbrüchliche und blinde Vertrauen, das Liane und Georges – damals – noch in das Leben, in ihre Paarbeziehung und in die Familie setzten, die sie aufbauten.

[home]
    V iolette und Justine waren endlich fertig und warteten in der Diele, die Mützen auf dem Kopf und die Mäntel bis zum Kinn zugeknöpft. Liane rief noch einmal nach Lucile, die schon länger als eine Stunde im Badezimmer herumtrödelte, dieses Mal lauter, denn Madame Richard hatte Punkt zehn Uhr gesagt, sie würden noch zu spät kommen. Lucile betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, ihre vollen Wangen, ihren Pagenschnitt,

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