Das Lächeln meiner Mutter
das Schreiben an diesem Buch versetzt, und weiß, wie sehr es mich in Frage stellt, mich verstört, mich erschöpft, kurzum: was es mich im physischen Sinne kostet. Wahrscheinlich hatte ich den Wunsch, eine Hommage an Lucile zu schreiben, ihr einen Sarg aus Papier – denn mir scheint, das sind die schönsten aller Särge – zu schenken und ihr ein Leben als Figur zu geben. Doch ich weiß auch, dass ich durch das Schreiben nach dem Ursprung ihres Leids suche, als gebe es einen bestimmten Augenblick, in dem der Kern ihrer Persönlichkeit auf endgültige und nicht wiedergutzumachende Weise verletzt worden wäre. Und ich kann mir nicht verhehlen, dass diese Suche nicht nur schwierig ist, sondern auch vergeblich. Durch dieses Prisma hindurch habe ich ihre Geschwister befragt – bei einigen von ihnen war der Schmerz mindestens ebenso sichtbar wie bei meiner Mutter –, habe ich sie mit immer gleichbleibender Entschlossenheit ausgefragt und gewissermaßen auf einen objektiven Grund gelauert, der sich mir, je näher ich ihm zu kommen glaube, immer weiter entzieht. So habe ich sie befragt, allerdings nie die Frage gestellt, auf die sie gleichwohl geantwortet haben: War das Leid bereits da?
In dem Word-Ordner, in dem ich all meine Interviews schriftlich festgehalten habe, ist die »Rue de Maubeuge« ein Thema für sich. Liane und Georges sind 1950 dorthin gezogen (aus einer ganz kleinen Wohnung in der Rue de Presles, an die sich niemand unter den Geschwistern meiner Mutter richtig erinnern kann) und 1960 wieder fortgezogen. Lucile hat dort also im Alter zwischen vier und vierzehn gelebt. Wie in vielen anderen Familien auch, werden die Epochen unter dem Ort subsumiert, an dem sie sich abgespielt haben. So gehören zur »Rue de Maubeuge« zugleich die Anfänge von Georges’ erster Werbeagentur und deren Auflösung, Justines Geburt, die Gründung einer weiteren Agentur, Antonins Tod, Violettes Geburt und Jean-Marcs Aufnahme in die Familie.
Noch heute wird von der »Rue de Maubeuge« nie ohne den mythologischen Anteil erzählt: Lisbeths Opferbereitschaft, Barthélémys Streiche auf dem Vordach im zweiten Stock, der Erfolg von Luciles Werbefotos, Justines geräuschvolle Wutanfälle, Violettes vorbildlicher Appetit, Madame Coutures
Schmoulz,
die Sonntagspicknicks, Lianes beständiges Lächeln.
Hinter der Mythologie stehen der Tod eines Kindes und die Ankunft eines anderen:
ein Puzzle-Teilchen, das man mit Gewalt ins Bild zu pressen versucht,
wird Violette mir in den Gesprächen sagen. In Luciles Aufzeichnungen über ihre Kindheit, die wir ganz unten in einem Karton in ihrer Wohnung fanden, las ich über Jean-Marcs Ankunft Folgendes:
So wurde mir trotz aller Erklärungen und allen Leugnens vage klar, dass wir austauschbar waren. Danach konnte ich nie mehr zur gegenteiligen Überzeugung gelangen, weder in meinen Liebesbeziehungen noch in meinen Freundschaften.
Hinter der Mythologie steht Lianes immense Müdigkeit und ihr Unvermögen, sich nach Antonins Tod um Justine zu kümmern, eine kinderreichen Familien eigene Art von Un-Unterscheidbarkeit, die geheimen Bande aus Treuepflichten, Rivalitäten und Komplizenschaften zwischen den Kindern und deren Worte und Phantasievorstellungen, dieser ganze unsichtbare Austausch zwischen ihnen, von dem die Erwachsenen nichts merken.
Hinter der Mythologie steht Milo, über den nicht viel erzählt wird, nur dass er wie ein stilles Wasser war, glatt und ohne sichtbare Wallungen. Und Barthélémy, der zur psychiatrischen Beobachtung im Hôpital Necker war, warum, weiß er jetzt nicht mehr genau, wahrscheinlich, weil er extrem wild war und noch ins Bett pinkelte. Zwei Jahre nach Antonins Tod brachte Liane ihn in das Kinderkrankenhaus. Als er gut in seinem weißen Zimmerchen untergebracht war, ging sie weg, angeblich, um Zeitschriften zu kaufen, und kam nicht zurück. Er blieb mehrere Tage dort, in tiefster Verzweiflung und davon überzeugt, dass seine Eltern ihn verlassen hätten, bis diese ihn abholten, alarmiert von einer Freundin der Familie, die den Jungen besucht hatte und über seinen Zustand erschrocken war.
Marie-Noëlle war zwanzig Jahre lang Georges’ Mitarbeiterin und eine der engsten Freundinnen meiner Familie. Da sie mit seinem Alltag ebenso verbunden war wie mit seinem gesellschaftlichen Leben, konnte sie seine Vitalität aus nächster Nähe erleben und weiß zugleich alles über die Tragödien und verzweifelten Momente, die er durchmachen musste. Sie war es, die
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