Das Lächeln meiner Mutter
unerträgliche Stimme. Nach und nach wurde die Erinnerung genauer, ich war mir meines Gedächtnisses nicht ganz sicher, es war irgendetwas im Zusammenhang mit Schreiben und Wahnsinn, vielleicht war es reine Phantasie, vielleicht hatte ich diese Sequenz rekonstruiert, nachträglich erfunden, ich musste diesen Film sehen, um mir Klarheit zu verschaffen. Irgendwo in dem Durcheinander meines Wohnzimmers hatte ich auf irgendeiner DVD eine Kopie davon. Ich zwang mich, nicht morgens um drei aus dem Bett zu springen, sondern streckte mich wieder in der Dunkelheit aus, ich drehte und wälzte mich und wartete auf den Morgen, um mit der Suche beginnen zu können, die mich von diesem Zweifel befreien würde.
Heute Morgen fand ich den Film. Mein Vater hat ihn gedreht, als ich ungefähr dreizehn und Manon neun Jahre alt war, ich kann diese Bilder nicht mit Sicherheit datieren, doch dieser Film ist von
vorher, vor
Luciles Krankheit und unserem plötzlichen Umzug in die Normandie. Unter der Leitung unserer ausgelassenen Stiefmutter parodieren wir zu einer klassischen Hintergrundmusik, die Gabriel beim Schneiden hinzugefügt hat, eine Fernsehsendung irgendwo in der Mitte zwischen Literatursendung und Talkshow mit berühmtem Gast und Varietéeinlagen. Bevor sie selbst in den Abgründen versank, die sie schließlich das Leben kosten sollten, war unsere Stiefmutter Marie-Anne eine sehr schöne und durchaus phantasievolle Frau. Der Dreh ist vollständig improvisiert, wir hatten nichts geprobt. Marie-Anne interviewt zunächst Manon, die
Cunégonde Gertrude
verkörpert, eine international bekannte Sängerin, die am Beginn ihres vierwöchigen Gastspiels im berühmten Olympia steht. Manon mit ihrer Boa, den nachgemalten Augenbrauen und dem Edith-Piaf-Gehabe ist zum Schreien komisch. Sie war ein hinreißendes kleines Mädchen, und in ihrer zögernden Star-Darstellung rührt sie mich zu Tränen. Zu Marie-Anne, die Gerüchte über Romanzen anspricht (es sei von Yves Mourousi und Prinz Charles die Rede), sagt Manon, von der Sorte könne sie hundert erobern. Kurz danach beginnt Marie-Anne mit dem nächsten Interview. An diesem Abend habe sie das Vergnügen,
Jeanne Champion
bei sich zu haben, eine weltweit übersetzte Autorin, deren dreizehntes Buch,
Les Frères Montaurian
[Die Brüder Montaurian], bereits ein Bestseller sei. Dann erscheine ich auf dem Bildschirm, genauso heftig geschminkt, mit angemalten Lippen und schwarzumrandeten Augen, während Marie-Anne eine Zusammenfassung des Romans gibt, in dem es um meine schwere Jugend gehe, die geprägt gewesen sei von den wiederholten Anstaltsaufenthalten meiner Mutter und dem Alkoholismus meines Vaters, kurzum, diese kummervollen Jahre, von denen ich mich anscheinend durch das Schreiben befreit hätte. »Einige Passagen sind wirklich sehr hart«, sagt sie warnend. Ich beantworte ein paar Fragen, erwähne, dass der Roman soeben in Amerika erschienen sei, übersetzt von Orson Welles (vermutlich der erste amerikanische Name, der mir einfällt, wir können gerade noch einen Lachanfall unterdrücken). Danach singt Manon ein Lied, und zwar direkt improvisiert (und mit einem sehr witzigen Text), während ich so tue, als läse ich aus meinem Roman vor, den ich trotz meines aufsteigenden Gelächters noch erfinden kann. Diese Stimme ist es, die ich im Schlaf gehört habe, diese das Melodram nachäffende gezwungene Stimme, diese furchtbare Stimme, die vom
Iiirrrenhaus
spricht. Meine Darstellung hat etwas Pathetisches, das ich nicht genau zu definieren vermag, auch über die seltsamen Vorahnungen in den Fragen meiner Stiefmutter hinaus. Ich bin in einem Dazwischen, zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Lachen und Weinen, zwischen Kämpfen und Aufgeben, ich trage eine entsetzliche Zahnspange und zappele die ganze Zeit herum. Ich hasse diesen Film, meine Stimme, meine Gesten, meine bloßen Schultern, meine vielen Schmuckstücke.
(Gerade kam mir ein Zweifel, ich prüfte es im Internet nach und stellte fest, dass es eine Jeanne Champion gibt. Die echte Jeanne Champion malt, sie hat sechs Romane geschrieben und tatsächlich 1979 ein Buch mit dem Titel
Les Frères Montaurian
veröffentlicht.)
Im Laufe des Tages kam mir noch eine andere Erinnerung. Vor langer Zeit habe ich mit dem Vater meiner Kinder, der Regisseur ist, einen Kurzfilm gemacht, für den ich das Drehbuch geschrieben hatte. Es ging um den ersten Ausgang einer Patientin der Klinik Sainte-Anne, sie wird von ihrer Tochter – die panische Angst
Weitere Kostenlose Bücher