Das Lächeln meiner Mutter
hat, ihre Mutter könne ihr weglaufen – abgeholt und mit nach Paris genommen. Die Geräusche, die Stimmen, die Dialogfetzen aus dem Fernseher, die Lautsprecheransagen in den Kaufhäusern, die Gespräche im Bus spielen darin eine sehr große Rolle. Wir schickten den Film an das Centre National de la Cinématographie, um uns um eine finanzielle Förderung zu bewerben, und wundersamerweise wurde das Drehbuch von der ersten Kommission akzeptiert. Wir wussten uns vor Freude kaum zu fassen. Anschließend wurde es abgelehnt und mit folgendem Kommentar an uns zurückgeschickt: Die Beschreibung der psychiatrischen Welt ist nicht realistisch.
Manon sagte mir neulich, dass sie von mehreren Leuten (besonders von unserem Vater und unserem Bruder) gefragt wurde, ob es für sie nicht ein Problem sei, dass ich über Lucile schreibe, ob es sie beunruhige, störe, verstöre oder was weiß ich. Manon antwortet dann, das Buch werde meine Sicht der Dinge sein, es gehe also mich an, gehöre zu mir, genauso wie Violette mir sagte, sie freue sich darauf,
meine
Lucile zu lesen. Manon besitzt inzwischen diese Art Weisheit, die über ihre eigenen Verletzungen hinausgeht.
Ich habe noch nicht geschrieben, wie ich nach meiner Rückkehr nach Paris und Luciles Klinikaufenthalt während eines ganzen Schuljahrs nicht mehr aß, bis ich den Tod in meinem Körper fühlte. Das war übrigens genau das, was ich wollte: den Tod in meinem Körper fühlen. Mit neunzehn Jahren, ich wog bei einer Größe von einem Meter fünfundsiebzig noch sechsunddreißig Kilo, kam ich in einem Zustand der Unterernährung, der ans Koma grenzte, ins Krankenhaus.
2001 veröffentlichte ich einen Roman, in dem es um den Krankenhausaufenthalt einer magersüchtigen jungen Frau geht. Die Kälte, die sich in ihr ausbreitet, die Ernährung über eine Magensonde, die Begegnungen mit anderen Patienten, die langsame Rückkehr von Sinneseindrücken, Gefühlen, die Heilung.
Jours sans faim
[Tage ohne Hunger] ist ein zu Teilen autobiographischer Roman, bei dem ich, von einigen Rückblenden in die Vergangenheit abgesehen, die Einheit von Zeit, Ort und Handlung wahren wollte. Der Aufbau war wichtiger als das andere, keine der Nebenfiguren hat wirklich gelebt, der Roman enthält einen großen Teil Fiktion und, wie ich hoffe, Poesie.
Mein derzeitiges Vorgehen erscheint mir gefährlicher und zugleich vergeblicher. Jetzt kommt immer ein Augenblick, in dem mir die Werkzeuge aus der Hand fallen, wo mir die Rekonstruktion entgleitet, weil ich nach einer Wahrheit suche, die nicht in mir, die außerhalb meiner Reichweite ist.
Magersucht lässt sich nicht auf den Wunsch einiger junger Mädchen reduzieren, den – allerdings – immer magerer werdenden Mannequins auf den Seiten der Frauenzeitschriften zu gleichen. Fasten ist eine mächtige und wenig kostspielige Droge, das wird oft nicht gesagt. Unterernährung betäubt den Schmerz, die Affekte, die Gefühle und wirkt zu Beginn wie ein Schutz. Die restriktive Anorexie ist eine Sucht, die das Gefühl von Kontrolle vermittelt, während sie zugleich den Körper seiner Zerstörung zutreibt. Ich hatte das Glück, auf einen Arzt zu treffen, dem dies schon bewusst war, als die meisten Anorektiker noch in ein leeres Zimmer gesperrt wurden, bis sie in einen Gewichts-Vertrag einwilligten.
Ich werde diese Phase meines Lebens hier nicht vertiefen, mich interessiert lediglich, welche Wirkung sie auf Lucile gehabt haben mag, welches Echo sie auslöste.
Lucile, wehrloser denn je, war die ferne Beobachterin meines Zusammenbrechens. Ohne jede Geste, ohne eine traurige oder zornige Äußerung, unfähig, etwas, was auch immer, auszudrücken, sah sie mich während meines ganzen Sturzes an, wortlos, aber auch ohne sich abzuwenden. Lucile, deren spätes »Aber dann stirbst du doch« und der Ton der Ohnmacht, in dem sie es sagte, mir die Sackgasse, in der ich steckte, hörbar machten.
Jahre später, als ich selbst Mutter war, dachte ich oft an den Schmerz, den ich meiner Mutter zugefügt habe.
Einige Wochen vor meiner Aufnahme ins Krankenhaus sagte der Psychiater, der Lucile behandelte und dem sie wohl zumindest einen Lagebericht gegeben hatte, sie solle mich mitbringen. Lucile rief mich an und bestand darauf, Dr. A. glaube, das könne uns helfen, wenn ich es nicht für mich tun wolle, dann solle ich es für sie tun.
Ich betrat das Sprechzimmer in Luciles Kielwasser, ich hatte überhaupt keine Lust, da zu sein, all das war mir unerträglich und
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