Das Lächeln meiner Mutter
machte mich wütend, ich hatte mit diesen Psychiatern, Psychoanalytikern und sonstigen Psychotherapeuten nichts im Sinn, sie hatten es nicht geschafft, Lucile aus ihrer Not zu befreien, nicht einer hatte seiner Zunft Ehre gemacht, lauter armselige Wichte, die einen Roboter aus meiner Mutter gemacht hatten. Dr. A. stellte mir ein paar Fragen, die ich vergessen habe, ich war angespannt, in der Defensive, ich hatte keine Lust, mit diesem Mann zu sprechen, einen wie auch immer gearteten Pakt zu schließen, ich wollte ihm zeigen, wie sehr ich sein Dasein missbilligte und wie leicht ich ihn durchschaute. Was konnte er schon tun, außer noch ein paar weitere Tropfen zu verschreiben, die in Wasser aufgelöst werden mussten? Plötzlich bat mich Dr. A., mich auf Luciles Schoß zu setzen. Um Zeit zu gewinnen, ließ ich ihn die Aufforderung wiederholen, für wen hält der sich eigentlich, dieser Depp, dachte ich, ich trug eine Jeans in der Größe für Zwölfjährige, deren Farbe ich noch vor mir sehe, ich schnappte nach Luft, und er wiederholte sanft: Ich möchte, dass Sie sich auf den Schoß Ihrer Mutter setzen. Ich stand also auf, setzte mich auf Luciles Schoß und keine zehn Sekunden später brach ich zusammen. Ich hatte schon seit Monaten nicht mehr geweint, durch die Kälte und meine niedrige Bluttemperatur geschützt, durch die Isolation verhärtet, zudem begann ich durch den Nahrungsmangel taub zu werden, mein Hirn wurde am Tag nur noch von sehr wenigen Informationen erreicht.
Doch jetzt war es eine Welle, eine Brandungswelle, eine Flutwelle.
Während ich auf dem Schoß meiner Mutter schluchzte, schlug Dr. A. Lucile vor, mir ein Papiertaschentuch zu geben. Lucile wühlte in ihrer Handtasche, gab mir das Taschentuch, und Dr. A. sagte:
»Sehen Sie, Madame Poirier, Ihre Tochter braucht Sie noch.«
Wir waren beide gleichermaßen betäubt, als wir die Praxis verließen und nebeneinander über einen der Boulevards des 18 . Arrondissements liefen, dessen Namen ich vergessen hatte. Ich habe diese Szene in meinem ersten Roman nicht beschrieben, aus einem Grund, den ich ebenfalls vergessen habe, vielleicht, weil sie damals noch zu heftig für mich war. Allerdings habe ich in diesem Buch, das in der dritten Person geschrieben ist und in dem Laure eine Doppelgängerin von mir ist, erzählt, wie
ihre
Mutter sie mehrmals in der Woche im Krankenhaus besucht, bei diesen Besuchen nach Worten sucht und so nach und nach den Gebrauch der Sprache zurückerlangt. Wie Laures Mutter, gewaltsam in ihre Rolle zurückversetzt, sich aus den Tiefen reißt, um einen Anschein von Leben zurückzugewinnen.
An einem anderen Tag, als wir gemeinsam zu Mittag aßen, kam Manon auf unser Gespräch über Lionel Duroy und die Art, wie er nach Erscheinen seines Buches von seinen Geschwistern abgelehnt worden war, zurück. Manon billigte mein Vorhaben und sicherte mir noch einmal ihre Unterstützung zu, doch nach längerem Nachdenken war ihr klargeworden, dass sie Angst hatte. Angst, dass ich von Lucile ein zu hartes, zu negatives Bild zeichnen würde. Für sie ging es nicht um ein Leugnen, sondern um Schamgefühle. So war ihr zum Beispiel die Szene in
Jours sans faim,
wo die Mutter zu viel Bier getrunken hat und auf den Stuhl uriniert, weil sie nicht mehr aufstehen kann, sehr schrecklich vorgekommen.
Ich erinnerte Manon daran, dass dies geschehen war (als hätte sie das vergessen haben können).
Mein Argument war natürlich absurd und rechtfertigte gar nichts. In meinem Gedächtnis sind noch andere Szenen mit Lucile, noch schrecklichere, die ich sicher nie beschreiben werde.
[home]
B evor Lucile noch einmal in den Wahn versank, erlebten wir alle drei eine sanfte Phase, ein seltsames Zwischenspiel: einen Vorgeschmack von Frieden.
Einige Monate nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus tauchte Manon, die bei Gabriel gerade eine ihr nicht mehr erträgliche Krisensituation erlebte, mitten im Schuljahr bei Lucile auf. Lucile schien es besserzugehen, sie klammerte sich an ihre Arbeit, hatte mit dem Trinken aufgehört und begann wieder ein bisschen zu sprechen.
Im Jahr darauf wurde meine Schwester, damit sie nicht jeden Tag ganz Paris durchqueren musste (Gabriel war nach Neuilly gezogen, wo Manon noch zur Schule ging), auf einem
Collège
im 15 . Arrondissement angemeldet.
Mit Manon tanzte Lucile zu den Platten von Rita Mitsouko, nahm an Englischkursen, die von der Stadt Paris veranstaltet wurden, teil und kommentierte die idiotischen
Weitere Kostenlose Bücher