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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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und mysteriöse Projekte, über die sie mit uns nur in Andeutungen sprach. Sie beschloss, ihre Wohnung zu kündigen, sie wolle aus einem Grund, den sie nicht enthüllen dürfe, nicht mehr darin leben, aber es sei eine große Neuigkeit, die es ihr ermöglichen würde, Manon und mich mit Geschenken zu überhäufen. Wenige Tage darauf beschloss sie, ihre gesamte Habe (Möbel, Kleidung, Elektrogeräte) an den Emmaus-Verein zu verschenken und setzte den Abholtermin auf den letzten Tag der Kündigungsfrist fest. Sie stand vor einem großen Coup. Von einer Freundin, die sie daran hatte beteiligen wollen, erfuhren wir, dass Lucile in das Musée de la Vie Romantique einbrechen wollte, um George Sands Schmuck zu rauben. Sie weigerte sich, Liane zu empfangen, die sie regelmäßig besuchte, um ihr zu helfen, und legte grußlos auf, wenn sich jemand nach ihrer Stimmung erkundigte.
     
    Binnen weniger Tage war Lucile nicht mehr erreichbar. An einem Abend, an dem es mir gelungen war, sie zu einem Treffen im Café du Commerce zu überreden, erklärte mir Lucile, sie habe jetzt dank dem Weiterbildungs-Praktikum, das sie einige Monate zuvor absolviert hatte, das gesamte Mikroinformatik-System von Armand Colin unter Kontrolle. Überhaupt stehe ihr ganzes Leben jetzt unter dem Zeichen der Informatik-Logik, daher brauche sie nur ein paar Knöpfe zu drücken, um verschiedene Ereignisse auszulösen, allerdings mache sie dabei manchmal einen Fehler, und dann, erklärte sie mir, fingen die Lichter an zu blinken. Doch es bestehe keinerlei Grund zur Sorge. Sie habe aufgehört, ihre Medikamente zu nehmen, gestand sie mir. Sie könne es nicht mehr ertragen, dieses Dahinvegetieren, sie wolle dieses von Neuroleptika gesteuerte Leben nicht mehr, sie wolle die Dinge erleben, spüren, sie wolle
lebendig sein.
     
    Einige Tage darauf teilte mir Lucile telefonisch mit, sie wolle in ein Dienstbotenzimmer ziehen, weigerte sich jedoch, mir die Adresse zu geben. Justine und Violette hatten sich vorgenommen, sie nach der Arbeit abzupassen, um sie dazu zu überreden, wieder in die Klinik zu gehen, doch Lucile erschien schon seit mehreren Tagen nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz, sie war einfach verschwunden.
     
    Durch einen Zufall, der vermutlich keiner war, fing ich mir zur selben Zeit eine kolossale Infektion ein, die dazu führte, dass ich eines Oktobermorgens im Krankenwagen zur Notfallstation des Krankenhauses Boucicaut gefahren wurde. Die Infektion hatte auf die Leber übergegriffen, ich war gelb und konnte im wörtlichen wie im übertragenen Sinne keinen Finger rühren. Vor Schmerz gelähmt, hatte ich Lucile – die den jüngsten Nachrichten zufolge auf den Spuren eines Clochards, in den sie sich verliebt hatte, durch das 14 . Arrondissement wanderte – nicht benachrichtigt, wohl aber Gabriels Schwester Bérénice, die sich um uns gekümmert hatte, als wir zum zahnmedizinischen Institut gingen, und deren Dasein schon mehrere Male ein Segen für mich gewesen war. Ich wurde sofort in das Krankenhaus aufgenommen.
     
    Am selben Abend oder am Tag darauf tauchte in dem Zimmer, in dem ich zum Glück allein war, eine unter Hochspannung stehende Lucile auf, außer sich. Violette, die mich gerade besuchte, wurde unter einem Schwall von Vorwürfen und Beleidigungen vor die Tür gesetzt, obwohl sie zögerte, mich mit Lucile allein zu lassen, die Anstalten machte, mich zu ohrfeigen (die Bewegung war in der Luft erstarrt), mir mein Kranksein vorwarf und mich dazu aufforderte, mich doch einmal zu fragen, wem ich damit alles nütze.
    »Mach nur weiter mit deinem Zirkus, Notaufnahme, Infusionen«, schimpfte sie, sobald die Tür zu war.
     
    Ich verweigerte die Diskussion. Ich hatte aufgegeben, ich konnte kaum den kleinen Finger heben, die Dinge hatten immerhin den Vorzug, klar zu sein, ich wollte in Frieden gelassen, vergessen werden, ich wollte mich vor dem weiten Schlachtfeld, das Lucile gerade eröffnen wollte, schützen. Das Krankenhaus bot mir in gewisser Weise einen neutralen, geschützten Raum, kurz, eine Rückzugsmöglichkeit.
    So an mein Bett gefesselt, an eine imposante Infusion mit Antibiotika angeschlossen und in der Konfrontation mit meiner Mutter, die rot sah und wie ein wildes Tier durchs Zimmer tigerte, erschien mir die Situation plötzlich unter ihrem erbärmlichsten und, nachdem wir einmal so weit gekommen waren, komischsten Aspekt. Verstört und mit vom Schlafmangel verquollenen Augen, eine Zigarettenstange unter dem Arm, ging Lucile, wie sie

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