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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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gekommen war, nachdem sie mir noch ein giftiges »dumme Gans« zugeworfen hatte.
    Violette kam nach Luciles Weggang in mein Zimmer zurück, sie war Lucile unten im Treppenhaus begegnet und von ihr als armer Dickwanst beschimpft worden, was nicht zutraf.
     
    Lucile tauchte noch mehrere Male auf, und jedes Mal unruhiger, sie schenkte mir eine Kunstharz-Reproduktion einer Tänzerin von Degas, wie sie im Louvre verkauft wurden, und bestand darauf, dass ich sie auf den Fernseher stellte (für Manon hatte sie die Reproduktion einer etwa 300  v. Chr. entstandenen ägyptischen Katzen-Statuette gekauft). Lucile sprach von den vielen Geschenken, die sie uns dank der Abfindung im Zusammenhang mit der Kündigung und anderer geheimnisvoller Einkünfte bald würde machen können, und erzählte mir von Graham Hardy, ihrem alkoholabhängigen geigenden Clochard, der in einem der letzten besetzten Häuser im 14 . Arrondissement, zwischen der Rue de l’Ouest und der Rue de Gergovie, lebte. Graham sei der heruntergekommene Spross einer alten schottischen Familie, lebe von der wunderbaren Musik, die er in der Metro spielte, und es gehe das Gerücht um, er habe aus Schottland fliehen müssen, weil er einen Mann umgebracht habe. Im Verlauf ihrer Besuche brachte mir Lucile haufenweise unnütze Gegenstände aus ihrer Wohnung: Sie war dabei, sie leer zu räumen. Ich sah zu, wie sie mein Bett mit Papieren, Kartons und Tupperdosen bedeckte.
     
    Eines Abends rief ich in meiner Hilflosigkeit Justine und dann Violette an, doch die hatten ihr eigenes Leben, eigene Probleme, eigenen Kummer und absolut keine Lust, die Einweisung ihrer Schwester zu beantragen. Angesichts ihrer Widerstände brüllte ich, ich könne nicht mehr, ich sei einundzwanzig, halb tot vor Müdigkeit und nicht bereit, das ganz allein zu tragen. Nachdem sich die Gemüter abgekühlt hatten, kamen wir zu dem Schluss, der einzige Ort, an dem wir Luciles habhaft werden könnten, sei mein Krankenhauszimmer. Das waren zwar keine besonders günstigen Bedingungen für die Ruhe, die ich eigentlich vor meiner anstehenden Operation brauchte, aber wir hatten keine Wahl. Lucile würde auf jeden Fall wiederkommen.
     
    Am nächsten Tag stand Lucile um zehn morgens in meinem Zimmer, bleicher denn je und am ganzen Leib zitternd und schlotternd. Ich erinnerte sie daran, dass Besuch erst ab dreizehn Uhr erlaubt war, und bat sie, am Nachmittag wiederzukommen. Lucile willigte ein, aber entlastete sich vorher noch von den Dingen, die sie mir mitgebracht hatte: einen Pflanzensprüher, Manons Bonsai, eine Reihe alter, nicht zu identifizierender Plüschtiere, ein sehr spezielles Kartenspiel, mit dem man in die Zukunft sehen konnte, und einen ganzen Haufen unnützen Nippes. Sie hatte die Taschen voll davon. Lucile verkündete, sie habe das große Los gezogen, dreißigtausend Franc netto, weil es ihr gelungen sei, die Macintosh-Zentrale zu sprengen. Da ihr Fall ein ganz besonderer Ausnahmefall sei, habe ihr die Geschäftsleitung von Macintosh, was noch nie vorgekommen sei, eine sehr lukrative und wenig zeitraubende Arbeit angeboten. Sie versprach, später wiederzukommen, und ich rief sofort Justine an.
    Der Nachmittag, an dem wir auf Lucile warteten, war schrecklich. Justine war kurz nach meinem Anruf gekommen, die Stunden vergingen in der bangen Erwartung des Augenblicks, in dem sich die Tür öffnen und Lucile in die von uns gestellte Falle gehen würde. Wieder einmal machte ich mich des Hochverrats schuldig.
    Am späten Nachmittag, die Spannung, in der wir uns befanden, hatte immer weiter zugenommen, kamen überraschend zwei Klassenkameradinnen von mir, gefolgt von Barnabé, einem Jungen, den ich ein paar Wochen zuvor kennengelernt hatte und bei dem ich auf eine Annäherung hoffte. Während ich ihnen zu erklären versuchte, dass sie vielleicht besser an einem anderen Tag wiederkommen sollten, tauchte Lucile auf wie eine Furie, die Arme voller Poster und Pflanzen.
    »Alle raus hier, aber dalli!«
     
    Binnen weniger Minuten befand ich mich mitsamt meinem Infusionsständer draußen auf dem Gang, während sich Lucile im Zimmer unter wüsten Beschimpfungen und mit Zähnen und Klauen auf Justine stürzte. Justine schrie mir zu, ich solle SOS Psychiatrie anrufen, und eine meiner Freundinnen rannte zum Empfang. Die Tür ging wieder zu, und ich blieb auf dem Gang, gekrümmt vor Schmerz und Angst, mit wild klopfendem Herzen, neben mir Barnabé, dem anscheinend plötzlich bewusst wurde, dass ich vielleicht

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