Das Land der lebenden Toten
fast aus. »Cagarruta! Ich habe mehr als eine Stunde dafür gebraucht!«
»Dann mußt du ein Zauberer sein.«
Picasso lachte und räumte weiter auf, um Platz in dem Atelier zu schaffen.
Gilgamesch legte die Maske weg und wanderte durch den Raum und betrachtete die Bilder, die an jeder Wand gestapelt standen. Es waren erschreckende Bilder. Da war eine Frau mit zwei Gesichtern an einem Kopf, und man konnte nicht sagen, ob sie einen direkt anblickte, oder ob man ihr Gesicht seitlich sah. Und dort stand ein Bild, auf dem lauter kleine Schachteln waren, so daß die Augen herumspringen mußten, bis einem fast die Tränen kamen. Und dort waren drei Ungeheuer mit höhnischen Gesichtern. Eine Frau mit drei Brüsten und Zähnen zwischen den Beinen.
Die Formen! Die Farben! Noch nie hatte jemand solche Szenen gesehen, nicht einmal in der Nachwelt. Ganz gewiß wurde hier irgendeine Art Zauberwerk praktiziert. Gilgamesch dachte: Im alten Uruk hätte ich befohlen, diese Bilder zu verbrennen und den Maler aus der Stadt zu peitschen. Und trotzdem, jetzt fühlte er sich von diesen Arbeiten wie betört. Er spürte in ihnen den starken und spielerischen Geist des kleinen Mannes und seine bestürzende Willenskraft.
»Bist du ein Zauberer?« fragte er.
»Por favor. Die Maske. Bitte setz sie auf.«
»Irgendein Dämon?«
»Ja«, antwortete Picasso. »Ich bin ein Dämon. Die Maske. Bitte?«
»Zeig mir das Bild, das du von meiner Mutter gemalt hast.«
»Es ist nicht fertig. Es verändert sich ständig. Alles verändert sich unablässig. Ich werde dir die Maske selber aufsetzen.« Picasso kam durch das Atelier und griff nach der Maske. Doch er war zu klein. Gilgamesch ragte vor ihm auf wie eine Mauer. »Dios! Was bist du für ein cojonado Prachtbulle! Weshalb mußt du dermaßen groß sein?« Und er schob Gilgamesch die Maske bis ans Kinn. »Also, setz sie schon auf!« befahl er. »Ahora atrabajar. Zeit, daß wir jetzt mit der Arbeit beginnen.«
Er sagte es ruhig, aber mit großem Nachdruck. Gilgamesch stülpte sich die Maske übers Gesicht, und zuerst wäre er an dem Gestank von Klebeleim und anderen Dingen beinahe erstickt. Er band sich die Schnur im Genick zu. Durch zwei Schlitze konnte er etwas sehen, aber nicht besonders gut. Picasso winkte ihn zu einer Stelle unter den grellen starken elektrischen Lampen und zeigte ihm, welche Position er von ihm haben wollte: die Arme erhoben, wie bereit, einen heranstürmenden Angreifer zu packen.
»Bei all diesen anderen Bildern, hast du dafür beim Malen auch Modelle benutzt?« fragte Gilgamesch mit dumpfer und hohler Stimme hinter der Maske. »Es sind Dinge, die du wirklich gesehen hast?«
»Ich sehe sie hier drin.« Picasso klopfte sich gegen die Stirn. Dann zündete er sich eine Zigarette an, trat zurück und starrte Gilgamesch so fest und stetig an, daß dieser die Kraft und Intensität der Augen wie kalte Messerklingen auf der Haut fühlte. »Manchmal arbeite ich mit einem Modell, manchmal nicht. In der letzten Zeit meist mit, wegen der Schwierigkeiten. Ich sage mir, die Modelle helfen, obwohl das nicht der Fall ist, nicht viel jedenfalls. Diese Nachwelt hier, die ist Scheiße, weißt du? Sie ist mierda, sie ist cagada, der ganze Ort hier ist un gran cagadero. Aber wir tun, was wir können, was, König Gilgamesch? Das ist jetzt unser Leben. Und es ist immer noch besser als das große nada, was? Ist’s nicht so, König? Halte die Arme oben! Die Beine auseinander, nur ein bißchen! Stoß mit den Hüften nach vorn, wie wenn du ihn ihr reinstoßen willst, ja, wie du da stehst!« Und er malte bereits drauflos, mit breiten hastigen Pinselstrichen. Gilgamesch empfand einen leichten Schauder der Unsicherheit. Wie wenn das da wirklich eine Art Zauberei war? Wenn Picasso seine Seele einfangen und auf die Leinwand bannen konnte und wenn er beabsichtigte, ihn dort auf ewig eingesperrt zu halten?
Nein, sagte er sich dann. Das ist Unsinn. Der kleine Mann war genau das, was er gesagt hatte: ein Maler.
Wenn man Herodes trauen durfte, sogar ein sehr großer Maler. Vielleicht saß ein Dämon in ihm, aber wenn, dann war es einer von der Art, wie auch Gilgamesch ihn in sich gehabt hatte, der ihn getrieben hatte, überall hin zu gehen, alles zu schauen, alles zu lernen, alles in sich hineinzuschlingen. Ich verstehe diesen Mann, dachte er. Er und ich, wir sind uns sehr ähnlich. Der Unterschied ist, daß ich in der Nachwelt gelassen und unkompliziert geworden bin, während der da immer noch von
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