Das Land der lebenden Toten
Später Toten begegnet, der mich mit einem gewissen Conan verwechselte, irgend so einem alten Krieger, der sowas wie ein Mann aus dem Land der Kimmerier war, und der wollte mich anbeten oder noch Schlimmeres mit mir. Was für ein trauriger Tor der Mann war! Wahrscheinlich auch wieder so eine archetypische Sache, denke ich.«
»Sie sind alle solche Narren, diese modernen Männer«, sagte Vy-otin.
»Aber die Dummheit ist nicht erst gestern erfunden worden«, sagte Gilgamesch. »Wir hatten zu meiner Zeit davon auch schon einen ganzen Haufen. Und du wahrscheinlich auch.«
»Wahrhaftig«, gab Vy-otin zu.
Gilgamesch betrachtete seinen alten Freund nachdenklich, und auf einmal überkamen ihn Zweifel an seinen eigenen Göttern, dem Himmelsvater An und Enlil, dem Herrn der Stürme, und Enki, dem Barmherzigen, und all den übrigen. Waren auch sie einst nur Menschen gewesen – Krieger, Priester, Könige – und durch die Zeit hindurch und dank der blöden Leichtgläubigkeit der Menschen in derart ferne, erhabene Wesen umgeformt worden, in diese – Archetypen? Wenn er lange genug durch die Nachwelt zog, würde er dann die echten, die echten Urbilder, die Originale der Götter aus Sumer-dem-Land in einer Kaschemme versammelt finden, in der Stadt Dis, wo sie heftig zechten und herzlich lachten und sich Geschichten über die guten alten Zeiten vor der Flut erzählten?
Die Vorstellung behagte ihm nicht sonderlich.
Schweigend gingen die zwei dann wieder zum Festsaal zurück.
Gilgamesch sagte: »Das war also der Rat, den du mir zu geben hattest? Daß ich mich von sogenannten Philosophen fernhalten soll?«
»Ja. Und daß du auf der Hut sein sollst vor Dumuzi.«
»Natürlich. Das auch. Aber die Philosophen sollte ich doch wohl mehr fürchten, wenn deine Erfahrungen einigermaßen verbindliche Anhaltspunkte bieten. Mit Schwertern und Dolchen werde ich leicht fertig. Aber zudringliche Wörterschwätzer? Pfui! Sie machen mich ebenso rasend wie dich!« Und gerade da erblickte er Herodes, der aus dem Festsaal kam und ziemlich angeschlagen von den Ausschweifungen der Nacht wirkte. Der kleine jüdische Fürst stützte sich schwankend gegen die dunkle Relieffläche des Gebäudes, atmete mehrmals nacheinander heftig, rieb sich die Augen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Seine weiße sumerische Robe war voll Weinflecken, das Schädelkäppchen saß schief. »Siehst du den Mann da?« fragte Gilgamesch. »Er ist mit mir von Brasil hergereist. Er besteht aus nichts weiter als aus Worten, Worten, Worten. Leih ihm dein Ohr, und er sabbert es dir stundenlang voll. Er ist so kühn wie ein Floh. Und dennoch behauptet er, daß auch er einst ein König war.«
»Gilgamesch?« rief Herodes und beschattete die Augen gegen den Sonnenglast. »Da bist du ja, Gilgamesch!« Unsicher, als fürchtete er, seine Fußknöchel könnten unter ihm wegknicken, kam er heran und sagte: »Ich hab’ dich gesucht. Kann ich mit dir reden?«
»Rede.«
Herodes warf Vy-otin einen scheuen Blick zu und schwieg.
»Also? Was gibt es?« sagte Gilgamesch.
Immer noch zögernd sprach Herodes: »Es ist mir gelungen, heute nacht ein paar Informationen aufzuschnappen. Und ein paar davon dürften dich interessieren.«
»So rede schon!«
»Der Freund deiner Mutter? Der Mann, der dich auf einem Bild malen will?«
Mit wachsender Ungeduld sagte Gilgamesch: »Nun, was ist mit dem?«
»Er benutzt hier den Namen Ruiz. Aber weißt du, wer er in Wirklichkeit ist, Gilgamesch? Er ist Picasso!«
»Wer?«
»Picasso! Pablo Picasso!« Mit seinem vom Wein geröteten stoppelbärtigen Gesicht sah er so aufgeregt aus, als bekäme er gleich einen Schlaganfall. »Er versucht sich hier zu verstecken, vor einer Ex-Gemahlin oder einer Ex-Geliebten, deshalb hat er sich einen anderen Namen zugelegt. Aber einer von Dumuzis Höflingen hat mir gesagt, wer er in Wahrheit ist. Es ist einfach sagenhaft! Und natürlich wirst du dich von ihm malen lassen, ja? Er wird dich zu einem Meisterwerk machen, wie es die Nachwelt noch nie…« Herodes brach ab. »Du bist nicht beeindruckt. Nein, ganz und gar nicht. Du weißt nicht einmal, wer Picasso ist, ja? Er ist bloß der größte Künstler der Nachwelt, der je gelebt hat! Ich habe das studiert, weißt du nicht? Die Kunst der Später Toten, die Musik, die Architektur…«
»Nun, ist es nicht, wie ich dir sagte?« fragte Gilgamesch Vy-otin. »Ein endloses Gesäusele, ein Gewäsch von Wörtern.«
»Ist ja schon gut, dir liegt nichts daran«,
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