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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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brennender Ruhelosigkeit und Hunger getrieben ist.
    »Du warst immer ein Maler?« fragte er.
    »Immer. Von der Wiege an. Sprich jetzt nicht, ja?«
    Mit welcher Selbstverständlichkeit er einen König herumkommandiert, dachte Gilgamesch. Dieser kleine Kahlkopf, der nichts weiter anhat als eine zerfetzte zu weite kurze Hose, dem der Schweiß aus den weißen Haaren auf der Brust troff, der in einer Wolke von Zigarettenqualm stand, und er fürchtet niemanden und nichts. Nun war es nicht mehr schwer zu verstehen, daß er Ninsun eingefangen hatte. Dieser Mann, dachte Gilgamesch, konnte wahrscheinlich jedes Weib bekommen, das er haben wollte. Sogar eine Königin. Sogar eine Göttin.
    »Weißt du was?« sagte Picasso nach langer Zeit. »Ich glaube, diesmal wird es hinhauen. Das Bild vergeht nicht. Die anderen, die haben sich mir unter der Hand verändert. Aber das da, das steht. Das ist die Magie des Minotauros, glaube ich. Der Stier regiert in der Nachwelt! Ich bin ein Stier. Du bist ein Stier. Wir sind die ganze Zeit in der Arena. Ich konnte nicht Matador werden, also wurde ich Stier. Bei dir ist es das gleiche. Glaube ich. Es spielt keine Rolle: Die Kraft des Stieres ist in uns beiden. Hast du in deiner Stadt mit dem Stier gekämpft?«
    »Einmal habe ich mit einem gekämpft«, sagte Gilgamesch. »Enkidu und ich zusammen. Es war der Himmelsstier, in dem die Kraft des Vaters Enlil steckte. Die Priesterin Inanna hatte ihn freigelassen in der Stadt, und er raste ungehemmt und wild umher und tötete ein Kind; aber Enkidu und ich, wir fingen ihn ein, wir tanzten mit ihm, wir spielten mit ihm und erledigten ihn. Enkidu ermüdete ihn, und ich gab ihm den Schwertstoß.«
    »Bravo!«
    »Doch das erzürnte die Götter. Sie nahmen zur Vergeltung Enkidu das Leben. Er kümmerte dahin und starb. Dies war das erstemal, daß ich ihn verlor, aber dann habe ich ihn hier in der Nachwelt wieder und immer wieder verloren. Ich bin dazu verdammt, ewiglich nach ihm zu suchen. Es ist unser Schicksal, daß wir nie lange beisammen sein dürfen. Dieser Mann ist mein Bruder; er ist mein zweites Selbst. Aber ich werde ihn wiederfinden, und bald. Man sagt, er ist hier in Uruk, als Gefangener. Vielleicht hast du ihn gesehen – er ist genauso groß wie ich, und…«
    Aber Picasso hörte nicht zu. Er schien ganz in seine Arbeit und in einen persönlichen fernen Traum versunken zu sein.
    »Der Stierkampf am Sonntag«, sagte er, als hätte Gilgamesch überhaupt nicht gesprochen. »Das wird dir gefallen! Wir zwei werden in der Ehrenloge sitzen. Sabartes hat einen Matador ausfindig gemacht, von dem ich noch nie gehört habe, aber vielleicht taugt er ja was, nicht? Es ist sehr wichtig, daß der Matador gut ist. Die bloße Abschlachterei ist eine Schande! Die corrida ist Kunst. Die Arme höher, ja?«
    Er hat nicht ein Wort von dem gehört, was ich zu ihm über Enkidu sagte, dachte Gilgamesch. Seine Gedanken schweiften ab, als ich von der Tötung des Himmelsstiers sprach. Er hört nur, was er hören will. Und wenn er zuhören will, hört er zu, und wenn er sprechen will, so spricht er. Doch in seiner Seele ist er allein König. Macht nichts, dachte Gilgamesch. Er ist ein großer Mensch. Seine Größe leuchtet und strahlt von ihm, wie das Licht von einem polierten Schild sich spiegelt. Und Herodes hat wahrscheinlich recht, daß er auch ein großer Maler ist. Auch wenn er nichts als Ungeheuerlichkeiten malt.
    »Es geht gut voran«, sagte Picasso dann. »Das Bild bleibt, weißt du? Die Kraft des Stieres! Heute mal kein Kubismus; kein Blau, kein Rosa.« Und nun bewegte sich sein Arm so rasch, daß es aussah, als wäre es nicht einer, sondern drei Arme. Die Augen glühten. Und dennoch, er erweckte nicht den Eindruck der Hast. Das Gesicht war starr, bewegungslos, ausdruckslos. Der Körper schien – bis auf diesen rastlos werkenden Arm – vollkommen entspannt zu sein. Gilgamesch brannte darauf, zu sehen, was sich auf der Leinwand tat.
    Die Maske war inzwischen erstickend heiß geworden. Er merkte, wenn er sie noch viel länger tragen mußte, würde er keine Luft mehr bekommen. Doch er wagte es nicht, sich zu bewegen. Er war ganz unter dem Bann dieses kleinen Mannes. Ein Zauber, ja, ganz bestimmt, es war Hexerei, dachte er.
    »Weißt du, warum ich male?« fragte Picasso. »Ich sage mir jedesmal: Was kann ich heute über mich lernen, was ich noch nicht weiß? Die Bilder sind meine Lehrmeister. Wenn nicht mehr ich in ihnen spreche, sondern sie selber, die Bilder, die

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