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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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aus Kreta und Varuna, der Melukkerkönig, alle seine Gefährten aus den frühen Tagen der Nachwelt. Wie lange war das schon her! Und nun…
    »Sei gegrüßt!« kreischte ein Weib, stürzte sich auf ihn und umklammerte sein Handgelenk. »Errette uns vom Untergang, großer König!«
    Gilgamesch starrte die Frau verblüfft an. Eigentlich noch keine Frau, ein Mädchen war sie. Und er kannte sie. Er hatte sie einst gekannt. Hatte sie sogar geliebt. In einem anderen Leben und weiter Zeitenferne, auf der anderen Seite der großen Grenze von Leben und Tod. Denn es war das Gesicht der mädchenhaften Priesterin Inanna, die er so hastig und so leidenschaftlich im alten Uruk umarmt hatte, in jenem Leben vor diesem Leben! In den vielen Jahren in der Nachwelt hatte er mehr als einmal an eine Wiederbegegnung mit der Inanna gedacht, ja sogar erwogen, sie zu suchen, doch er hatte das nie in die Tat umgesetzt. Aber daß er jetzt hier in Brasil ihr so einfach zufällig wieder begegnen sollte…
    Aber war er überhaupt noch auf der Insel? Noch in der Nachwelt?
    Um ihn herum wirbelte alles. Dichter Nebeldunst sammelte sich um ihn. Die Erde dampfte ihre Feuchte aus. Ihm war, als sähe er die Wallmauern von Uruk am Ende der Straße auftauchen, die gewaltige weiße Treppenplattform der Tempel, die ehrfurchtgebietenden Statuen der Götter. Und tausendmal tausend Zungen, die seinen Namen brüllten. Gilgamesch! Gilgamesch! Und am Firmament strahlte statt der trüben roten Glut die helle gelbe Sonne des LANDES, die er so unvorstellbar lange nicht mehr gesehen hatte, und verströmte ihre ganze mittsommerliche Kraft.
    Was bedeutete dies? Hatte ihn die Glocke ganz aus dieser Welt hinausgehoben und in jene andere zurückversetzt, in die Welt seiner Geburt und seines Todes? Oder erfuhr er hier nur einen Wachtraum?
    »Inanna?« fragte er verwundert. Wie schlank und schmal sie war! Wie jung! Blaue Perlenschnüre umschlangen ihre Mitte, rosafarbene Muschelamulette waren in die Spitzen ihrer Haare geflochten. Ihr Körper war nackt, an den Flanken und vorn mit dem Schlangenmuster bemalt. Und die dunkel gefärbten Spitzen der Brüste… ihr scharfes aufreizendes Parfüm…
    Dann sprach sie erneut, diesmal rief sie ihn beim Namen seiner Namen, dem geheimen persönlichen Namen, mit dem ihn niemand seit Tausenden von Jahren angesprochen hatte, seit der Zeit, da er selbst noch ein halber Knabe gewesen war und ihm der Mantel der Königswürde auf die Schultern gelegt wurde und er zum ersten Mal seinen Königsnamen, brausend wie einen Fluß, in den Ohren vernahm: Gilgamesch, Gilgamesch, Gilgamesch. Den anderen Namen hatte er selbst schon lange vergessen, seinen Geburtsnamen, aber als sie ihn nun aussprach, barst ein Damm in seiner Seele und die Erinnerung flutete über ihn hinweg. Was war dies für Zauberei, daß er sich auf einmal wieder dem Mädchen Inanna gegenüber sah?
    »Ich bin Ninpa, die Herrin des Zepters«, murmelte sie. »Ich bin Ninmenna, die Herrin der Krone.«
    Sie streckte ihm die Hand entgegen. Und als er sie berührte, veränderte sie sich. Sie war nun älter, ihr Leib voller. Die dunklen Augen glitzerten buhldirnenhaft wissend. Die dunkle Haut schimmerte ölig. »Komm«, flüsterte sie. »Ich bin Inanna. Du mußt mit mir gehen. Du bist der einzige, der uns retten kann.«
    Vor ihm ein dunkler unterirdischer Gang – ein Surren in seinen Ohren wie von tausend Wespen, die um sein Haupt schwirren – vor seinen Augen ein helles purpurnes Licht, das aufflammt –, ein gewaltiges Brüllen, als hätte Enlil, der Herr der Stürme, alle seine Winde auf die Nachwelt losgelassen…
    Und dann ein beißender Schmerz in seinem Unterschenkel. Der Hund Ajax hatte seine Fänge tief in sein Bein vergraben! Verblüfft sah er zu dem Hund hinab.
    »Vorsicht, Gilgamesch!« bellte Ajax. »Das Verhexung!«
    »Wie? Was?«
    Die Frau hielt ihn an der Hand fest. Hitze floß zu ihm herüber, überwältigend wie aus einem Backofen. Und schon wieder veränderte sie sich: Nun trug sie das Gesicht seiner Mutter. Und gleich darauf war sie die rundbrüstige Hierodoule Abisimti, die ihm im Tempel seine erste Lektion in den Liebeskünsten erteilt hatte. Und dann war sie wieder die kindhafte Inanna. Und dann wieder die reife Frau. Und dann etwas mit hundert Köpfen und tausend Augen und suchte ihn in die tiefen Suhlgruben der Nachwelt hinabzuzerren, in die gähnende Schwärze tief unter dem glutlodernden Kern des Vulkans Vesuv.
    »Ich bin Ereshkigal aus der Hölle«, flüsterte

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