Das Land der lebenden Toten
dies Schicksalsamulett bei dir trägst, so wirst du gedeihen und stets angenehm sein…«
»Guter Herr! Hierher, lieber Herr! Ich bitte dich!«
»Nichts Schlimmes? Nichts Böses?« Der Behaarte lachte laut und zeigte gewaltige hauerartige Zähne. »Nichts weiter dabei, heh, mit einem Mastodon Haschmich zu spielen, mein Freund? Sofern man dafür groß genug ist, nehme ich an. Du gehst ganz einfach darauf zu, zupfst es am Rüssel, ziehst an seinen Ohren? Ja?«
»Mastodon?« sagte Gilgamesch verdutzt. Ein seltsames Wort. Hatte er es auch richtig gehört?
»Spielt keine Rolle. Du würdest es sowieso nicht kennen. Es war vor deiner Zeit. Mach dir nichts draus. Aber ich will dir sagen, daß dies hier keine Stadt ist, in der einer unbeschützt herumstreunen kann. Hat dich denn keiner davor gewarnt?«
»Herodes hat etwas von Zauberern und Magiern geschwätzt, aber…«
»Guter Herr! Lieber Herr!«
»…aber du hast nicht auf ihn gehört. Herodes! Der Narr!« Die tiefliegenden Äuglein des Haarmenschen funkelten vor Verachtung. »Aber manchmal kann sogar Herodes dir etwas Nützliches sagen. Du hättest seine Warnung beachten sollen. Brasil birgt zahlreiche Gefahren.«
»Ich habe keine Furcht vor dem Tod«, sagte Gilgamesch.
»Sterben ist das am wenigsten Scheußliche, was dir hier widerfahren könnte.« Der Haarige legte Gilgamesch eine schrumpelige ledrige Hand auf den Arm. »Komm mit! Hier herüber! Geh mit mir ein Weilchen auf und nieder.«
»Hast du einen Namen?«
»Namen bedeuten gar nichts«, erwiderte der Haarmensch. »Es hat dich erschreckt, ja, was draußen geschah?«
Gilgamesch zuckte die Achseln.
Der Mann rückte nahe an ihn heran. Von seinem pelzigen Körper ging ein seltsam süßlicher Duft aus. »Es gibt hier Straßen, in denen die anderen Welten durchbrechen. Es besteht immer die Gefahr, daß das Gewebe nicht standhält, daß fremde Welten hereinbrechen. Begreifst du, was ich dir sage?«
»Ja«, sagte Gilgamesch. »Auch in Uruk gab es einen solchen Ort. Einen Übergang, der aus unserer Welt hinab in diese hier führte. Die Göttin Inanna stieg durch diesen Gang, wenn sie ihre Schwester Ereshkigal in der Hölle besuchte. Und beim Ritual der Schließung des Tores warf ich meine Trommel und den Schlegel in den Gang, als ein Mädchen mich aufschreckte, indem es den Namen eines Gottes rief.« Jahrhundertelang hatte er nicht mehr an all das gedacht. Nun überflutete ihn die Erinnerung mit unkontrollierbarer emotionaler Heftigkeit. »Es war die Heilige Trommel, die der Kunstwerker Ur-mangar für mich aus dem Holz des Huluppu-Baumes geschnitzt hatte, durch die ich in meine Trancen geriet und Dinge schaute, die sterbliche Augen sonst nicht sehen können. Und so verlor ich zum erstenmal meinen Freund Enkidu, als ich die Trommel und den Trommelschlegel in dieses furchtbare Loch voll Staub und Asche warf und er in die dunkle Niederwelt hinabstieg, um sie mir wiederzubringen.«
»Dann weißt du ja Bescheid«, sagte der Haarige Mann. »Aber du mußt lernen, wo diese Stellen sind, und dich von ihnen fernhalten.«
Gilgamesch zitterte nun. Alte Erinnerungen brachen lebendig wieder in ihm auf.
Enkidu! Enkidu!
Wieder sah er Enkidu vor sich, grau von Staub, gefangen in dicken Strängen wirren Spinngewebes, und er stieg aus dieser Grube in Uruk, die in die Welt der Toten hinabführte; und Enkidu, wie er da heraufstieg, war auch ein Toter, von all seiner Lebenskraft entblößt, und er würde innerhalb von zwölf Tagen für immer und ewig hinweggeschafft werden in das Haus des Staubes und der Finsternis. Was für eine unendliche Trauer für Gilgamesch! Wie hatte er den Todesgöttern geflucht, daß sie ihm Enkidu fortgenommen hatten! Und dann, nachdem seine eigene Zeit abgelaufen war und er seinen Enkidu in der Nachwelt wiedergefunden hatte, mußte er ihn erneut verlieren – was für eine Qual dies alles, wieder mit dem Freund vereint zu sein und ihn zum zweitenmal zu verlieren, als Enkidu sich zwischen die kampfgeilen Spanier und Engländer stellte und eine Kugel abbekam, die einem anderen bestimmt gewesen war…
»Und so habe ich ihn denn schon wieder einmal verloren«, sagte Gilgamesch laut. »Als verfolgte uns der Fluch der Inanna bis hierher in die Nachwelt, und wir müssen einander finden und wieder auseinandergerissen werden, und immer und immer so fort und so fort…«
»Was sprichst du da?« fragte der Haarmensch.
»Wir waren drüben am anderen Ufer, Enkidu und ich, mitten unter einem Troß von
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