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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sichtbar, taumelnd, niederstürzend…
    Niederstürzend…
    Und dann war da, wo Enkidu gewesen war, nichts mehr. Wieder einmal war sein Geist fortgerissen worden an jenen rätselhaften Ort des Totentodes, wohin die gesandt werden, die in der Nachwelt zugrunde gegangen waren. Und dort würde er bleiben und warten, im Limbus, ein Jahr vielleicht, eintausend Jahre, vielleicht eine halbe Ewigkeit, man konnte es nie vorhersagen, bis es wieder soweit war, daß er einen atmenden Körper zugeteilt erhielt und in das nachweltliche Totenleben entlassen wurde.
    »Wo soll ich ihn suchen? Ihn finden?« fragte Gilgamesch, ganz benommen von Trennungsweh.
    Und eine Stimme gab Antwort: »Du mußt ihn suchen in Uruk, der an Schätzen reichen Stadt!«
    Gilgamesch schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt kein Uruk!«
    »Nein? Bist du sicher, König Gilgamesch? Wurde dir das an Wissen offenbart?«
    »Aber…«
    Er schaute. Und sah. Und die Schleier über seiner Erinnerung verzogen sich.
    Uruk!
    Da lag es, schimmernd über einer weiten dunklen Ebene, eine weiße Stadt, strahlend wie ein Juwel. Da war die Stufenplattform mit den Tempeln, die heiligen Gebäude, die Prozessionsstraßen. Uruk. Nicht das Uruk, in dem er geboren wurde, König war und starb, sondern jenes zweite Uruk, Neu-Uruk, das der Nachwelt, dieses große Uruk, das er…
    - gegründet hatte…
    - hundert Jahre lang regierte, oder waren es tausend…
    - er – er, ein König in der Nachwelt…
    Er erblickte sich selbst auf dem Thron. Umringt von Hofbeamten, Bittsteller mit Gesuchen, Abgesandte aus anderen Fürstentümern der Nachwelt. Er sah sich Edikte erlassen, Pläne begutachten, die Feldherrn seiner siegreichen Armeen begrüßen. Sah sich als König in der Nachwelt wie in der Welt vor dieser. Sah und erkannte, daß es eine wahre Vision sei.
    Die Erkenntnis brach über ihn herein wie ein Sturzbach und wusch alle eingebildeten Gewißheiten fort, nach denen er sein Leben so lange eingerichtet hatte. Wie hatte er glauben können, er sei ausgenommen von der allgemeinen Regel, daß in der Nachwelt die Helden die Mühsal und Kämpfe ihres Lebens wiederholen müssen? Wie konnte er sich so täuschen und glauben, er und Enkidu hätten während ihrer vielen tausend Jahre in der Nachwelt weiter nichts getan, als umherzustreifen, zu jagen, weiterzuwandern und sich hochnäsig einen Dreck um die Ehrsucht zu kümmern, die in allen anderen glutheiß zu brennen schien? Natürlich hatte er auch in der Nachwelt nach Herrschaft gestrebt. Natürlich hatte er auch hier einst Anhänger um sich geschart, hatte eine Stadt erbaut und sie prächtig gemacht und gut gesichert gegen alle Angreifer. Wie hätte es auch anders sein können? War er denn nicht der König Gilgamesch?
    Und dann… dann…
    Dann das alles zu vergessen…
    Er verstand nun. In der Nachwelt war niemals Verlaß auf Erinnerung. Wie oft hatte er das schon gesehen! Ganze Jahrhunderte konnten in einem flüchtigen Augenblick zusammenfallen und waren vergessen. Ganze Reiche konnten entstehen und blühen und ohne Erinnerung untergehen. Hier gab es keine Geschichte. Es gab auch wirklich keine Vergangenheit, sondern nur einen Brei aus zusammenhanglosen Ereignissen, und es gab auch keine Zukunft; und auch kaum eine Gegenwart.
    In der Nachwelt war alles Fluktuation und Veränderung, obgleich sich unter dem oberflächlichen Schein nie etwas wirklich veränderte. Gilgamesch hatte ehrlichen Herzens geglaubt, die Zeit hätte die Lust an der Macht in ihm erlöschen lassen. Vielleicht war es ja so. Aber es war ihm jetzt nicht mehr möglich, all das zu leugnen, was er so lange auch vor sich selber hatte verbergen können. Nun wußte er, warum alle diese kleinen Leute hier in der Nachwelt so versessen waren auf Verschwörungen und Revolutionen und die sonstigen Machttrips. Was außer solchem Streben konnte einen sonst davor bewahren, in dieser Ewigkeit verrückt zu werden? Aber er hatte das hinter sich gelassen, hatte er jedenfalls geglaubt. Vielleicht. Vielleicht. Doch vielleicht war er auch noch nicht völlig darüber hinausgewachsen.
    Und so stand er, benommen und staunend, mitten im Wirbel von Calandolas Orgie. In ihm loderte die verbotene Speise, die ihm die Augen geöffnet hatte.
    Enkidu war erneut gestorben. Uruk Wirklichkeit geworden. Er selbst noch nicht gänzlich gefeit gegen die Gier nach Macht.
    Nun habe ich also die Erkenntnis, dachte Gilgamesch.
    Er sank auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen, und schwere Seufzer der Trauer

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