Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
inzwischen gänzlich entrückt, völlig verloren zu sein in faszinierter Hingabe an die abscheuliche Zeremonie. Als hätte er sein Leben lang und sogar in seinem Leben nach dem Leben darauf gewartet, sich den krankhaften Mysterien Calandolas auszuliefern. Oder aber, als könnte er nicht anders, als sich dem hinzugeben wohin immer es ihn bringen würde.
    Und ich selbst spüre es auch, wie es mich mitreißt, dachte Gilgamesch bestürzt und erstaunt.
    »Nimm«, sagte Calandola. »Iß!«
    Genüßlich hielt er Gilgamesch das dampfende Stück Fleisch hin.
    Ihr Götter! Enlil und Enki und Himmelsvater An, was tue ich denn da?
    Aber die Götter wohnten weit von hier. Gilgamesch sah starr auf den Klumpen Fleisch.
    »Dies ist der Weg zur Erkenntnis«, sagte Calandola.
    Dies?
    Nein. Nein. Nein und NEIN!
    Er schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, die zu tun ich nicht bereit bin, nicht einmal, um Erkenntnis zu gewinnen.«
    Der Duft aus dem Kessel mischte sich mit dem Geruch eines unbekannten Weihrauchs, der in großen Schalen daneben schwelte, und Gilgamesch fühlte, daß er mehr benommen wurde und zu schwanken begann. Er drehte sich um und taumelte drei Schritte auf den Ausgang zu. Die Gläubigen und Ritualdiener wichen beiseite und machten ihm Platz, als er davonstolperte. In seinem Rücken hörte er das kollernde Gelächter Calandolas, der ihn wegen seiner Feigheit verhöhnte.
    Dann trat Herodes ihm in den Weg und hielt ihn auf. Der kleine Mann wirkte wie ein Bogen mit gespannter Sehne, er zitterte und bebte.
    Heiser rief er: »Geh nicht fort, Gilgamesch!«
    »Das hier ist kein Ort für mich.«
    »Aber die Erkenntnis – was ist mit der Erkenntnis?«
    »Nein.«
    »Wenn du versuchst, hier wegzugehen, wirst du ohne mich nie durch diese Stollen hinausfinden.«
    »Ich werde es eben darauf ankommen lassen.«
    »Ich bitte dich«, sagte Herodes. »Bitte! Bleib. Warte. Empfange mit mir das Sacramentum, die Heiligung!«
    »Das Sakrament? Die Heiligung? So nennst du das da?«
    »Es ist der Weg zur Erkenntnis. Geh ihn mit mir. Tu es für mich. Weise mich nicht zurück. Weise mich nicht ab. Wir sind schon beinahe dort, Gilgamesch; der Wein ist in unseren Seelen, unser Geist öffnet sich bereits füreinander. Nun folgt die Erkenntnis. Bitte! Bitte!«
    Noch nie hatte Gilgamesch im Gesicht eines Menschen einen derart flehentlichen Ausdruck gesehen. Nicht einmal in der Schlacht, wenn er die Streitaxt hob, um einem Feind den Todesstreich zu versetzen. Herodes streckte Gilgamesch die Hände entgegen. Gilgamesch zögerte.
    »Auch ich bitte dich«, ertönte eine Stimme links von ihm. »Geh nicht fort von hier. Laß nicht treue Freunde im Stich!«
    Es war Ajax.
    Der Hund schwankte flackernd wie Schatten, die vom Feuer auf eine Wand geworfen werden: einmal war es der große gescheckte Hund, dann das fremdartige kleine Wespenweib, dann, für einen kurzen Augenblick, flüchtig eine menschliche Gestalt, eine Frau mit traurigen Augen, die scheu und hilflos lächelte.
    »Wenn du von dem Fleisch ißt, kannst du mich befreien«, sagte der Hund. »In die Seele vordringen, Hund und Geist trennen. Du hättest die Kraft. Die arme leidende Seele in den nächsten Grad zu senden, den Hund als Hund fortbestehen zu lassen. Ich flehe dich an, mächtiger König.«
    Gilgamesch sah den Hund unschlüssig an. Sein jammerndes Flehen rührte ihm tief ans Herz.
    »Deine Freunde, gewaltiger Held. Vergiß nicht deiner Freunde in der Stunde der Erlösung. Die lange Versklavung soll enden! Und du allein vermagst die Freiheit zu schenken!«
    »Ist dies die Wahrheit?« fragte Gilgamesch Herodes.
    »Möglich. Das Ritual verleiht denen große Macht, die bereits Kraft in sich tragen.«
    »Vergiß nicht deiner Freunde!« jammerte die Wespenfrau laut, in einem Versuch, das wahnsinnige Getöse um ihn zu durchdringen. Und eine innere Stimme befahl ihm: Tu es. Tu es!
    Und warum nicht? Warum nicht? Warum denn nicht?
    Dies ist die Nachwelt, und es gibt auch keinen Weg von hier fort.
    Er ging zu Calandola hinüber, der ihm noch immer das Fleisch entgegenhielt. Der Kannibalenhäuptling grinste ihn zähnefletschend an, doch er begegnete dem grimmigen Ausdruck mit Gelassenheit und ergriff das Stück Fleisch. Dann wog er es einen Augenblick in der Hand. Es war warm und zart, ein vorzügliches, saftiges Stück. Aus den verschütteten Tiefen seiner Erinnerung kamen ihm Worte in den Sinn, die man ihn vor fünftausend Jahren gelehrt hatte, als er jung war und der neue König und bei der

Weitere Kostenlose Bücher