Das Land der lebenden Toten
Wein, der hatte hier nur einen sehr blassen Geschmack. Genau wie die Leiber der Frauen oder ein warmes duftendes Stück Bratenfleisch. Hier war nicht der Ort, an dem echte Freude, wirklicher Genuß zu finden war, wie er sie in Erinnerung hatte. Hier lebte man einfach weiter und weiter und weiter. Diese Nachwelt war in sich selber sinnlos, und deshalb war auch jegliches Streben hier sinnlos. Zu diesem kühlen, trostlosen Schluß war Gilgamesch schon vor langer Zeit gekommen. Und er fand es reichlich verwirrend, daß so wenige dieser großen Heroen, dieser Sultane, Kaiser und Pharaonen und wie sie sonst hießen, während ihrer langen Aufenthaltsdauer hier diese Wahrheit nicht begriffen hatten.
Er wackelte mit dem Kopf, um diese Gedanken, die nicht mehr zu ihm passen wollten, wegzuschüttein. Er hatte kein Recht mehr, den Ehrgeiz anderer Männer verachtungswürdig zu finden, seitdem er durch die Hände Imbe Calandolas in Brasil das Wissen empfangen hatte.
Und er erinnerte sich, daß auch er in der Nachwelt mit Königtum herumgespielt hatte, sogar er, der ernüchterte und abgeklärte Gilgamesch. Er hatte an diesem Ort des Chaos nach Macht gestrebt, und er hatte sie gewonnen, und hatte eine große Stadt gegründet und daselbst in großer Herrlichkeit geherrscht. Und dann hatte er das alles vergessen und war brav und fromm durch die Nachwelt getrabt und hatte fest und überzeugt behauptet, daß er über derlei irdisches Wunschverlangen hinaus sei.
Es stand ihm schlecht an, andere für ihren Ehrgeiz und ihren Stolz auf Errungenschaften zu schmähen. Er hatte einfach vergessen, daß er auch so war, da lag der Fehler. In der Nachwelt konnte einer alles vergessen. Das verstand er nun. Erinnerung war hier etwas Zufälliges. Ganze Erlebnissegmente versackten einfach, tausend Jahre turbulente Geschehnisse. Um dann unerwartet wiederzukommen und einen Mann in tiefste Seelenwidersprüche zu verstricken.
Gilgamesch fragte sich, ob die fiebernde Machtgier, die er derart verächtlich gefunden hatte, ihn nicht über kurz oder lang erneut packen würde. Die Nachwelt konnte einem geschickt gegensätzliche Feuer in der Brust entfachen, das wußte er: Wovon einer zutiefst überzeugt war, daß er so etwas nie tun würde, dabei ertappte man sich hier dann mit hoher Wahrscheinlichkeit.
»Nun sieh dir bloß diese Gegend an!« murrte Simon. »Es wird immer scheußlicher. Immer schlimmer!«
»Ja«, antwortete Gilgamesch. »Wir sind an den Rand des Nichts gelangt.«
Anfangs hatte die Expeditionskarawane aus sieben Geländefahrzeugen bestanden – Simons vergoldetem kugelsicheren Palankin; zwei weniger prunkvollen Sänften für Gilgamesch und Herodes; und vier weiteren Vehikeln für das Gepäck und die Sklaven. Doch am dritten Tage war ganz plötzlich die Straßendecke unter den letzten Wagen des Bagagetrosses eingebrochen, und in purpurnen Flammen und mißtönendem Geheul unsichtbarer Geister war der letzte Landrover verschluckt worden. Dann, zwei Tage später, hatte Simons grandiose Motorkutsche plötzlich Pestbeulen an der schimmernden Panzerung entwickelt, war wie von scheußlichen Pockennarben bedeckt, und das Fahrgestell hatte begonnen zu schmelzen und zu zerfließen, wie wenn es von einer Säure zerfressen würde. Also blieben ihnen nur fünf Landrover. Simon reiste verstimmt und genervt mit Gilgamesch im vordersten Wagen und tröstete sich mit gewaltigen Mengen des süßen dunklen Weins.
Dieses angebliche Uruk, das sie suchten, dachte Gilgamesch, konnte irgendwo im Norden liegen, im Süden, Osten oder Westen. Oder auch ganz woanders. Oder nirgendwo. Vielleicht war Uruk ja überhaupt nur ein Gerücht, eine Vision, ein phantastischer Wunschtraum, die Ausgeburt der überhitzten Einbildung irgendeines Lügners vielleicht, dunstverhangene mündliche Überlieferung. Vielleicht würden sie hundert Jahre danach suchen, oder tausend, und es niemals finden.
Also war diese Queste möglicherweise ein törichtes Unternehmen. Doch nicht zu suchen, das wäre wohl ebenso beschränkt und dumm. Selbst für den Fall, daß Uruk nur ein Trugbild und Traum war, was würden sie schon verlieren, wenn sie danach suchten! »Zeit ist Geld«, hatte einst jemand Gilgamesch gesagt – dieser seltsame alte Knabe Ben Franklin? Oder Sennacgerib aus Assyrien? Time is Money? Ganz falsch, dachte Gilgamesch. In der Nachwelt ist Zeit nichts wert, gar nichts. Und wenn ich auch nur die kleinste Chance habe, auf diese Weise Enkidu zu finden – und Simon die Juwelen, nach
Weitere Kostenlose Bücher