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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Gilgamesch.«
    Gilgamesch hatte Mühe, darüber nicht laut zu lachen. »Ich brauche dich?«
    »Du wirst wieder König sein, wenn du in Uruk ankommst, nicht? Du wirst es sein wollen. Du kannst es vor mir nicht verheimlichen, Gilgamesch. Ich war bei dir, als du die Erkenntnis empfingst. Und ich habe sie ebenfalls empfangen.«
    »Und falls ich wirklich wieder König werde?«
    »Dann brauchst du einen Narren«, sagte Herodes. »Jeder König braucht einen Hofnarren. Auch ich hatte einen, als ich ein König war. Doch irgendwie finde ich, daß ich mich für die Rolle des Narren besser eigne. Nimm mich mit. Ich mag nicht hier in Brasil bleiben. Und ich will nicht noch einmal in Calandolas Höhle hinabsteigen. Es wäre möglich, dort noch einmal an einem Festschmaus teilzunehmen. Oder ich würde vielleicht selbst als Essen im Kessel landen dort unten. Willst du mich nicht mit dir gehen lassen, Gilgamesch?«
    Gilgamesch zögerte, zog die Brauen zusammen. Schwieg.
    »Warum nicht?« drängte Herodes. »Warum?«
    »Tja«, sagte Gilgamesch. »Warum nicht?« Sein eigener Lieblingsausspruch wehte ihn hier wieder an. Dieses große Warum nicht? der nicht endenwollenden Nachwelt.
    »Und? Wirst du?« fragte Herodes.
    »Tja«, sagte Gilgamesch noch einmal. Die Vorstellung war nicht ganz ohne Reiz, fand er. Seit dem Aufenthalt in Calandolas Höhle hatte er den kleinen Hebräerkönig eigentlich irgendwie liebgewonnen. Sicher, er steckte voll Schwächen, aber da war auch diese starke Menschlichkeit und Toleranz. Und Herodes war intelligent und zugleich klug, eine gute, nicht übermäßig verbreitete Mischung. Er konnte ein anregender Gefährte werden, wenn er nicht gerade säuselte und quasselte. Höchstwahrscheinlich ein besserer Weggefährte als dieser alte Weinsäufer Simon. Und möglicherweise würde Herodes ja nicht dermaßen viel schnattern und summen und quatschen, wenn sie erst einmal draußen im Outback durch die rauhe Wildnis zögen. Es war eigentlich gar nicht so unsinnig. Doch. Ja. Gilgamesch lächelte und nickte zustimmend.
    »Warum nicht, Herodes? Warum nicht?«

12
    B RAUN UND GELB schien sich die westliche Schotterwüste der Nachwelt Millionen Meilen weit vor Gilgamesch und seinen Reisegefährten zu dehnen, über den Horizont hinaus und zu beiden Seiten bis in den Himmel. Vielleicht war das ja wirklich so. Die enge bröckelige Landstraße, auf der sie dahinzogen, schien hinter ihnen zu verschwinden, sobald sie ein Stück weiterfuhren, als verschluckten hinter ihnen gierige Dämonen die brüchigen Pflastersteine, und vor ihnen schien die Straße in mehrere verschiedene Richtungen gleichzeitig zu führen.
    »… aber zweifellos wirst du mir doch zustimmen, Gilgamesch«, sagte Simon der Magier, »daß es besser ist, in der Nachwelt ein Herrscher zu sein, als Sklavendienste zu tun.«
    »Ich fürchte, du zitierst nicht ganz korrekt«, erwiderte Gilgamesch ruhig. »Aber das macht nichts. Wir haben in unserem Diskurs den Faden verloren, sofern es da je einen gab. Habe ich mich über dich lustig gemacht? Schön, wenn ja, dann ersuche ich dich, mir zu vergeben, Simon. Ich tat es nicht absichtlich.«
    »Geredet wie ein König. Es gibt keine Ranküne zwischen uns. Magst du noch einen Schluck Wein?«
    »Ja, warum nicht?« sagte Gilgamesch.
    Tag und Nacht war die Karawane ohne Unterbrechung über das öde unfruchtbare Land dahingerollt. Die Küste über der Inselstadt Brasil hinauf, in der Hoffnung, eine Stadt zu entdecken, deren Existenz bislang nur bloße Vermutung und Spekulation war.
    Gilgamesch trank schweigend. Der Wein war in Ordnung. Er hatte schon Übleres getrunken. Doch nach tausenden Jahren konnte er sich noch immer lustvoll an den Geschmack des süßen kräftigen Weins und des dicken schäumenden Biers im Sumer-Land erinnern. Ach, besonders der Wein! Wie viele Krüge dieses dunklen purpurnen Getränks hatte er gemeinsam mit Enkidu in ihrem alten Leben geleert! Wahrlich, der Wein erhob des Mannes Seele und Herz. Doch hier in der Nachwelt war wenig Gelegenheit zur Erhebung, und der Wein brachte nur flüchtige Freude. Ein kurzes Prickeln auf der Zunge, und dann war es vorbei. Aber hier erwartete man ja auch nicht mehr. Einst, anfangs hatte er das anders gesehen. Er hatte geglaubt, hier sei eine Art zweites Leben, in dem man echte Leistung erringen, wirkliche Ziele durchsetzen konnte, echte Lust erfahren, große Reiche gründen konnte. Nun ja, es war ein Sekundärleben, ein Über-Leben, das war nicht zu bezweifeln. Aber der

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