Das Land der lebenden Toten
Erkenntnis gegeben hatte. Weiße schimmernde würfelförmige Gebäude, die sich weit über eine dunkle Ebene hin ausbreiteten, die von hochgetürmten Hügeln begrenzt war. Ein hoher Wall aus sonnengetrockneten Ziegeln, von glasierten Reliefs mit Drachen und Göttern in leuchtenden Farben verziert, umgab die Stadt. Von der ziegelgepflasterten Straße aus, die sich durch die Hügel hinabwand, konnte Gilgamesch mitten ins Herz der Stadt blicken, wo sich allerlei Bauten im vertrauten Sumer-Stil drängten: Tempel, Paläste und Zeremonialplattformen.
Ihm war, als wären die endlosen Jahre seines Aufenthalts in der Nachwelt in einem Nu von ihm abgefallen, als sei er heimgekehrt nach Sumer, in das Land, an den geliebten Ort seiner Geburt, wo er die Wege der Götter und der Menschen gelernt hatte, durch Widrigkeiten zum Königtum emporgestiegen war und die geheimen Dinge erkennen lernte, die Wahrheiten über Leben und Tod.
Doch natürlich war hier nicht dieses Uruk. Die Stadt da gehörte in die Nachwelt, war ein völlig anderer Ort, hundertmal größer als in seinem untergegangenen Sumer, tausendfach fremdartiger. Und dennoch auch wieder vertraut und ebenfalls irgendwie heimatlich; denn hier war ja sein Zuhause, sein zweites, das seines zweiten Lebens.
Er hatte diese Stadt gegründet, war hier König gewesen.
Daran konnte er sich nicht erinnern – es war alles versunken in dem trüben Brei, als den sich das Vergangene hier in der Nachwelt darstellte. Doch die Erkenntnis, die Calandola ihm geschenkt hatte, verlieh ihm ein klares Gefühl für seine Leistungen in diesem zweiten Uruk, die er vergessen hatte; und als er nun die Stadt genau so da in der Ebene vor sich liegen sah wie in seiner Vision, wußte er, daß auch alles übrige an der Vision wahr sein müsse, daß er tatsächlich einst König in diesem Uruk war, ehe ihn der reißende Strom der Zeit zu anderen Orten und anderen Abenteuern hinwegriß.
Herodes sagte: »Es ist der rechte Ort, ja?«
»Ohne Frage. Genau der richtige.«
Sie fuhren jetzt alle drei zusammen in dem ersten Landrover, Simon und Gilgamesch und Herodes, ihr Bagagewagen dicht hinter ihnen und ein halbes Dutzend der niederen, stumpfnasigen Fahrzeuge der urukanischen Grenzschutztruppe geleitete sie. Herodes wurde wieder lebhafter, mehr seine gewohnte quirlige Person, mit rasch laufender Zunge, neugierig, zappelig und nervös. Er war ganz schön erschrocken gewesen, als der plötzliche Nebel den Zug zum Halten brachte und diese wild aussehenden schreienden Gestalten sie umringten. Er war überzeugt gewesen, daß eine Horde Dämonen sich über sie hermachen und sie zerfleischen würde. Doch als er sah, wie Gilgamesch gelassen aus dem Wagen stieg und wie sich die Wilden alle mit dem Gesicht auf den Boden warfen, als wäre er der Messias beim Einzug in die Stadt, gewann er wieder Zuversicht. Und nun wirkte er ganz entspannt und lehnte sich mit gekreuzten Armen und Beinen zurück.
»Sehr beeindruckend, dein Uruk«, sagte Herodes. »Meinst du nicht auch, Simon? Warum sagst du Gilgamesch nicht, was du von seiner Stadt hältst?«
Simon bedachte den judäischen Fürsten mit einem kalten abweisenden Blick. »Ich habe die Stadt noch nicht gesehen, Herodes.«
»Aber du siehst sie doch jetzt vor dir.«
»Die Mauerwälle. Die Dächer.«
»Aber es sind doch höchst majestätische Wälle? Und schau nur, wie weit sich die Stadt ausdehnt! Ziemlich viel gewaltiger als Brasil, findest du nicht?«
»Brasil liegt auf einer Insel«, erwiderte Simon eisig. »Seine Ausdehnung wird dadurch begrenzt, wie du nur zu genau weißt. Aber doch, ja, dies ist eine sehr prächtige Stadt, dieses Uruk. Und ich freue mich schon darauf, seine zahlreichen Wunder zu genießen.«
»Und deine Finger auf seine Schätze zu legen«, sagte Herodes. »Und die sind sicherlich üppig. Ist das die Schatzkammer, Gilgamesch, das große Gebäude dort unten auf der Terrasse?«
»Es ist der Tempel Enlils, glaube ich«, antwortete Gilgamesch.
»Aber er steckt doch gewiß voll von Rubinen und Smaragden. Mein Herr Simon, weißt du, liebt Rubine und Smaragde sehr. Meinst du, sie werden an diesem Ort etwas einzuwenden haben, wenn er sich mit ein paar Preziosen aus dem Schatz bedient, Gilgamesch?«
Simon Magus sagte finster: »Weshalb reizt du mich, Jude? Du bringst mich dazu, daß ich es bedauere, dich mit auf die Reise genommen zu haben.«
»Ich versuche doch nur, dich zu amüsieren, Simon.«
»Wenn du so weitermachst, könnte es mich leicht
Weitere Kostenlose Bücher