Das Land der lebenden Toten
schon so, seit er hierher gekommen war, seit dem Tag – er zögerte, die Scheußlichkeit zu denken…
… seit dem Tag seines Todes…
»Also gut«, sagte er. »Genug für heute nacht. Du kannst es dir bequem machen. Wie heißt du?«
»Ninsun.«
»Hm. Ein wundervoller Name. Wunderbare Frau. Wunderbarer Name. Du kommst aus Babylon?«
»Aus Sumer«, sagte sie.
Er nickte. Da gab es einen Unterschied, aber er hatte vergessen, was es war. Morgen wollte er jemand bitten, es ihm zu erklären. Babylonier, Sumerer, Assyrer – alle diese Völker in Mesopotamien, er konnte sie einfach nicht auseinanderhalten. Die ganze Stadt hier wimmelte von Mesopotamiern aller Arten, aber in den ganzen fünf Jahren, die er hier nun hauste, war er nicht dazu gekommen, viel über sie in Erfahrung zu bringen. Fünf Jahre? Oder waren es fünfzig Jahre? Oder fünf Wochen? Irgendwie war es hier unmöglich, das genau zu sagen. Aber das spielte weiter keine Rolle. Überhaupt nicht. Vielleicht war aber nun der richtige Augenblick gekommen, die Frau zu bitten, aus ihrem bezaubernden Kleid zu schlüpfen.
Es klopfte an der Tür, das vertraute dreifache Klopfzeichen, und noch einmal: das Zeichen von Sabartes. Nein, es war also nicht der rechte Moment, dieser Priesterin, dieser Göttin, dieser sumerischen Zauberin solche Dinge anzudienen.
Nun, es würde andere Gelegenheiten geben.
Grunzend gab er das Zeichen, daß Sabartes eintreten könne.
Knarrend ging die Tür auf. Und da stand Sabartes und blinzelte. Sein langjähriger Freund, sein Vertrauter, mehr oder weniger auch Sekretär, Schutzwall gegen Störungen und Zudringlichkeiten – und in diesem Moment ärgerlicherweise selbst ein Störfaktor. Derzeit sah er aus wie ein junger Mann mit gesunden fleischigen Wangen und massenhaft wilden schwarzen Haaren auf dem Kopf, der Sabartes der tollen frühen Barcelona-Tage, damals 1902 oder so, als sie einander erstmals begegneten. Wären da nicht die Augen gewesen, das Kinn, die lange schmale Nase, man hätte ihn nicht wiedererkennen können, so vertraut war der Sabartes der späteren Jahre geworden. Es war eine der beiläufigen Perversitäten hier in der Nachwelt, daß die Menschen irgendwie alterslos zurückkehrten. Man gewöhnte sich nicht leicht daran. Der Mann namens Ruiz sah wie etwa sechzig aus. Sabartes knapp über zwanzig, dennoch kannten sie sich seit beinahe siebzig Jahren drüben im Leben, und noch ein paar Jahre mehr – waren es zehn? Zwanzig? Tausend? Hier im Leben nach dem Leben.
Sabartes erfaßte alles mit einem schweifenden Blick: die Frau, die Staffelei, die finstere Stirn seines Freundes. Scheu fragte er: »Pablo, störe ich?«
»Nur bei einem weiteren wertlosen Bild.«
»Ach, Picasso, du bist zu streng mit dir selber!« Er schaute mit wütend funkelnden Augen hoch. »Ruiz. Du mußt immer daran denken, mich Ruiz zu nennen. Niemals Picasso!«
Sabartes lächelte. »Ruiz. Ruiz. Picasso, no. Ruiz. Ach, ich werde mich nie daran gewöhnen!« Er machte eine Wendung und betrachtete bewundernd und mit einem kaum merklichen Anflug von verstecktem Neid die prachtvolle Sumerische Frau. Dann blickte er verstohlen zu der Leinwand auf der Staffelei, und über sein Gesicht huschten flüchtig die verschiedensten komplexen Gefühlsregungen, die der Mann Ruiz nach den vielen Jahren ihrer Freundschaft ebenso leicht zu entziffern vermochte, als läse er etwas von einem steinernen Epitaph ab: Mit Neid vermischte Bewunderung, wieder einmal, für das handwerkliche Können, Ehrfurcht und Unterordnung und Demut, für das Genie, und dann dunkler etwas, das Sabartes vergeblich zu verhehlen bemüht war, ein Ausdruck von Traurigkeit, von Mitleid, fast von herablassender Bekümmerung, nicht ganz ohne einen Anflug von perverser Schadenfreude darüber, daß das Bild mißlungen war. Einen solchen Gesichtsausdruck hatte Ruiz-Picasso in all ihren gemeinsamen Jahren im Leben niemals bei Sabartes gesehen; aber hier in der Nachwelt zuckte so etwas beinahe automatisch auf, sobald Sabartes sich eines der neuen Bilder betrachtete. Wenn dies so weiterging, dachte Ruiz-Picasso, würde er Sabartes das Privileg entziehen müssen, jederzeit zu ihm ins Atelier zu kommen. Es war unerträglich, derart von oben herab behandelt zu werden, besonders von ihm.
»Nun?« fragte Picasso. »Bin ich zu kritisch mit mir?«
»Das Bild steckt voller wunderbarer Sachen, Pablo.«
»Ja. Wundervolle Sachen, die ich vor ewiger Zeit schon hinter mir gelassen habe. Und da kommen sie wieder. Der
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