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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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amüsieren, dich zum zweitenmal beschneiden zu lassen«, sagte Simon. »Oder Schlimmeres.« Und zu Gilgamesch sagte er: »Kommt dir wieder irgendeine Erinnerung zurück? An dein früheres Leben in Uruk?«
    »Nichts. Gar nichts.«
    »Aber du bist trotzdem sicher, daß du einmal hier gelebt hast?«
    »Ich habe diese Stadt erbaut, Simon. Das glaube ich wahr und ehrlich. Ich führte Leute meiner Art an diesem Ort zusammen, ich gab ihnen Gesetze und herrschte über sie, wie ich es einst in dem anderen Uruk auf der Erde tat. Überall ringsum finde ich Anzeichen dafür, die ich weder ignorieren noch abstreiten kann. Aber jegliches feste Wissen darüber, die Erinnerung an Arbeiten und Tage, an das wirkliche Gefühl für das, was ich in jenen Tagen getan haben muß, die Festigkeit und Wirklichkeit, soweit sie Geschehnisse und Ereignisse betrifft, all das ist mir entschwunden.« Gilgamesch lachte. »Kannst du dich an alles erinnern, was dir seit dem ersten Tag in der Nachwelt zustieß?«
    »Wäre ich vor Brasil König in irgendeiner Stadt gewesen, ich denke, ich würde mich daran erinnern.«
    »Wie lange bist du schon hier, Simon?«
    »Wer könnte das sagen? Du weißt doch, wie das mit der Zeit geht hier. Aber ich habe mir sagen lassen, daß so an die zweitausend Jahre auf der Erde vergangen sein müssen, seit meinem Aufenthalt dort. Vielleicht ein wenig mehr.«
    »In zweitausend Jahren«, sagte Gilgamesch, »hättest du in der Nachwelt fünfmal König sein können und es völlig vergessen haben. Du könntest hundert Königinnen umarmt und sie allesamt vergessen haben.«
    Herodes lachte glucksend. »Helena von Troja – Kleopatra – Nefertiti – alles weg und vergessen, Simon, die Form ihrer Brüste, der Geschmack ihrer Lippen, die Laute, die sie in der Lust von sich gaben…«
    Simon griff nach seinem Wein. »Glaubst du das auch?« fragte er Gilgamesch. »Kann das so sein?«
    »Die Jahre fließen vorbei und zerlaufen ineinander. Die Dämonen spielen mit unseren Erinnerungen. Es gibt hier keine geraden Linien, auch keine durchgehenden ungebrochenen. Und wie sollten wir unseren Verstand bewahren, Simon, wenn wir alles im Gedächtnis behielten, was uns in diesem Nachweltleben widerfährt? Zweitausend Jahre, sagst du? Bei mir sind es fünftausend, oder mehr. Hundert Lebenszeiten. Ach nein, Simon, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß wir hier wieder und immer wieder geboren werden daß unser Bewußtsein leergefegt wird, und die Tortur besteht darin, daß wir nicht einmal wissen, daß es so ist. Wir bilden uns ein, wir wären der, der wir immer waren. Wir glauben, daß wir uns selber begreifen, aber in Wirklichkeit erfassen wir nur die äußerste Oberfläche der Wahrheit. Der unwandelbare Essenzkern unserer Seele, der bleibt stets der gleiche, ja – ich bin immer Gilgamesch, er Herodes, du bleibst Simon, und wir treffen wieder und wieder die gleichen Entscheidungen, die einer mit unserer Natur treffen wird und muß – doch die Bedingungen in unserem Leben sind fließend und veränderlich, wir werden von den heißen Winden der Nachwelt herumgeschleudert, und das meiste von allem, was uns geschieht, versinkt schließlich in Vergessen. Dies ist die Weisheit, die ich bei der Offenbarung durch Calandola erfahren habe.«
    »Dieser Wilde! Dieser Teufel!«
    »Und wenn schon. Er schaut hinter die flache Realität der Nachwelt. Und ich nehme seine Offenbarung als wahr an.«
    »Du hast vielleicht Uruk vergessen«, sagte Herodes, »aber Uruk scheint dich nicht vergessen zu haben, Gilgamesch.«
    »Ja, es sieht fast so aus«, sagte Gilgamesch.
    In der Tat war er zutiefst bestürzt gewesen, als die sumerischen Grenzwachen ihn sofort als Gilgamesch, ihren König, gegrüßt hatten. Er war noch nicht ganz aus dem Landrover gestiegen, da knieten sie schon vor ihm, schlugen mit den Händen die heiligen Zeichen und jubelten ihm in der alten Sprache des Landes zu, die er so lange Zeit nicht mehr gehört hatte, daß sie ihm fremdartig und grob in den Ohren klang. Es war ihm, als hätte er diese Stadt erst vor ganz kurzer Zeit verlassen – während er doch wußte, daß es selbst angesichts der unergründlichen Zeitabläufe in der Nachwelt bereits eine lange Ewigkeit her sein mußte, seit er zuletzt in dieser Stadt gewohnt haben konnte. In diesem Punkt war seine Erinnerung deutlich, denn er wußte, daß er die letzte Phase seiner Zeit hier großenteils mit Enkidu durch das Hinterland gestreift war und die seltsamen Tiere im Outback, der Wildnis,

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