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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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sich, als sein Sohn sich ihm näherte.
    »Mark! Was tust du da?«, flüsterte er.
    »Ich bin gekommen, um das hier zu verhindern«, sagte Mark schlichtweg. Er fühlte sich auf seltsame Weise ruhig. Er befand sich bereits in größtmöglicher Gefahr; es gab kein Zurück mehr. Ohne weitere Erklärung langte er nach oben, um die Schlinge herunterzuholen.
    Da legte sich eine riesige Hand auf die seine.
    »Was tust du da, Junge?«
    Nicks Gesicht befand sich dicht vor seinem. Mark schaute hoch. Credes ehemaliger Gehilfe war wirklich ein Riese von einem Mann. Die Menge war plötzlich verstummt.
    Mark starrte, ohne mit der Wimper zu zucken, zu Nick hinauf. Er war es leid, Angst zu haben.
    »Ich hole diese Schlinge hier herunter«, sagte er laut und deutlich. »Sie wird nicht mehr benötigt.«
    Es funktionierte. Nick war derart überrascht, dass sich sein Griff lockerte. Mark befreite seine Hand und machte weiter. Der Knoten löste sich allmählich in seinen Händen.
    Nick packte ihn an seiner Jacke. »Ich weiß nicht, was du vorhast, Junge, aber …«
    »Mark«, erwiderte dieser gelassen. »Mein Name ist Mark. Ich bin einer von Lilys Freunden.« Er hob seine Stimme, sodass ihn alle Versammelten hören konnten. »Wollen Sie mich, den letzten Agoraner, der Lily gesehen hat, wirklich bedrohen?«
    Das reichte, um ein Raunen in der Menge hervorzurufen. Nick runzelte die Stirn, ließ ihn jedoch nicht los.
    »Sie benutzen sie als Symbol, Nick«, fuhr Mark fort. »Glauben Sie, sie würde das hier gutheißen? Sind Sie ihr eigentlich jemals begegnet? Denn ich erinnere mich an seine Gerichtsverhandlung.« Mark deutete mit dem Finger hinunter auf Pauldrons erschlafften Körper. »Ich erinnere mich daran, dass man ihr seinen Tod angeboten hat. Und sie hat es abgelehnt. Sie wollte heilen, nicht zerstören.« Obwohl ihm sein gesunder Menschenverstand heftig davon abriet, wandte sich Mark wieder dem Lösen der Schlinge zu, ohne weiter auf Nick zu achten. Stattdessen sagte er so laut, dass seine Stimme über den ganzen Platz hallte: »Sie hätte getan, was ich jetzt tue.«
    Er löste den Knoten vollends. Die Schlinge entwirrte sich und wurde zu einer einfachen Seillänge. Die Zuschauer hielten erst den Atem an, dann brachen hundert Gespräche zugleich aus, neugierig, verwirrt, angespannt. Während all dem regte sich Mark nicht. Nach außen wirkte er wahrscheinlich gelassen. Doch innerlich geriet er in Panik. Ihm trat die Erinnerung vor Augen, wie Nick einen Pflasterstein umklammerte und dass einige Zeit später Crede von einem solchen Stein gefällt worden war.
    »Aber du hast Crede gar nicht gekannt, Mark«, ertönte eine Stimme aus der Menge.
    Es war eine kalte, harte Stimme, die ganz anders klang als früher. Doch Mark erkannte sie wieder. Und schaute in ihre Richtung.
    Ihre Ringellöckchen hatte sich Cherubina bewahrt. Alles andere an ihr hatte sich verändert. Rüschen und Kleider hatte sie gegen einen schlichten Arbeitsanzug eingetauscht, und ihr früherer Ausdruck übertriebener Anmut war einem finsteren Blick gewichen. Aber die Löckchen waren immer noch da, immer noch golden.
    »Wir wollen unseren Anteil«, sagte Cherubina mit brechender Stimme. »Sie haben Crede getötet, als er versuchte, Frieden zu schaffen. Sie hassen uns. Ihr Ziel ist es einzig und allein, uns wieder zu unterjochen.« Sie ballte die Fäuste und wirkte dabei wie ein kleines Mädchen, das einen Wutanfall bekam, wären da nicht ihre zusammengekniffenen, wütend starrenden Augen gewesen. »Ich sage, es ist Zeit für Gerechtigkeit. Es ist Zeit, dass sie den Willen des Volkes spüren.«
    Mark merkte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Auch diese Worte hatte er schon einmal gehört. Die Folgen hatte er gesehen – die Ruinen, die Gräber, die Grausamkeit des Mobs. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, um zu versuchen, die Gemüter zu beruhigen.
    In diesem Moment hörte er neben sich jemanden lachen. Langsam und hämisch – ohne jede Spur von Humor.
    »Gerechtigkeit?«, sagte Lord Ruthven, der Menge mit Verachtung entgegentretend. »Ihr habt keine Vorstellung von Gerechtigkeit. Ihr weint und jammert, weil euer Leben nicht gerecht verläuft, wo doch jeder Einzelne in Agora die gleichen Startbedingungen hat – ausgestattet nur mit seinem Talent und seinem Ehrgeiz. Ich war der Sohn einer Perückenmacherin und bin zum Lordoberrichter aufgestiegen. Weil ich meine Arbeit gemacht und die Gesetze und Traditionen geachtet habe, die diese Stadt so großartig erhalten,

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