Das Land des letzten Orakels
betrachtet ihr mich als euren Feind?« Stolz richtete er sich auf und fuhr mit fester Stimme fort: »Nun, das bin ich auch. Ich war der Feind eures Schwindlers von einem Propheten. Ich war der Feind von Lily und ihren ganzen zerstörerischen Ideen. Ich bin der Feind eurer Schwäche und eures Verlangens, alles zu zerstören, was etwas aus euch machen könnte. Also knüpft mich auf, wenn ihr wollt, und nennt es Gerechtigkeit. Ihr seid nichts anderes als Kinder, die ihr Spielzeug zerbrechen, weil sie das Spiel verloren haben.«
Die Menge stieß ein wütendes Gebrüll aus. Nick schob Mark von dem Seil weg und begann es erneut zu knoten. Mark verschlug es den Atem, und er geriet ins Wanken.
»Crede war kein Schwindler«, knurrte Nick. »Er bedeutete alles für uns. Alles .«
Seine Worte waren aufrichtig, davon war Mark überzeugt. Er hörte die Trauer, die sich unter die Wut mischte. Einen Sekundenbruchteil entschuldigte er sich innerlich dafür, Nick je des Mordes an Crede verdächtigt zu haben. Was immer er sein mochte, er war loyal. Doch diese gleiche Loyalität drohte ihn nun zu einem schrecklichen Fehler zu verleiten.
»Hört nicht auf Ruthven!«, rief Mark Nick und der Menge zu. »Lasst euch von ihm nicht sagen, wer ihr seid; ihr seid mehr als das!«
»Also sollen wir lieber auf dich hören?«, ertönte laut und deutlich Cherubinas Stimme. »Warum versuchst du ihn zu retten? Er hat versucht, dich umbringen zu lassen! Warum machst du dir etwas aus dem da ?«
»Mache ich mir gar nicht!«, rief Mark. Es kam so unerwartet, dass die Menge verstummte.
Cherubina erweckte den Eindruck, als wolle sie etwas erwidern, doch mittlerweile hatte sich Ben einen Weg durch die Menge gebahnt, ergriff Cherubinas Hand und lenkte sie dadurch ab. Die Zeit reichte, damit Mark seine Gedanken sammeln konnte.
»Ich mache mir nichts aus ihm«, wiederholte er. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich es täte, aber du hast recht. Ich glaube, die Stadt wäre ohne ihn besser dran.« Er breitete die Arme aus und umschloss mit dieser Geste die Menge. »Aber ich mache mir etwas aus euch . Ihr seid euer ganzes Leben lang eingeschüchtert worden, das weiß ich. Ich wurde es auch. Denn die Regeln in der Stadt verlangen es – sie lassen einen nach oben drängen oder voller Angst im Rinnstein liegen. Jetzt fällt die Stadt auseinander, die Leute verhungern auf der Straße, es ist schlimmer als je zuvor. Und ihr jubelt, weil ihr glaubt, einen Sieg errungen zu haben. Aber was geschieht hier eigentlich genau?« Er deutete auf Lord Ruthven. »Wenn man die ganze Rache, die ganze Politik beiseitelässt … Ein erbärmlicher Verrückter ist bereits tot, und ein anderer hilfloser alter Mann steht im Begriff, vor euren Augen getötet zu werden.« Er biss sich auf die Lippe. In wenigen Momenten würde ihn seine Entschlossenheit verlassen, und dann würde er Reißaus nehmen. Aber noch besaß er ihre Aufmerksamkeit. »Denkt doch mal nur einen Moment nach«, flehte er sie an. »Würde Crede das hier gutheißen? Er hat von Veränderung geträumt, aber auf die einzuschlagen, die sich nicht wehren können, hört sich für mich an, als würden wir wieder zur Tagesordnung übergehen.« Er senkte die Stimme. »Würde Lily das hier wollen? Ihr sagt, ihr kämpft für ihre Vision. Soweit ich mich erinnere, hat sie vor allem für den Erhalt des menschlichen Lebens gekämpft.«
»Lily ist tot«, sagte Cherubina.
Sie hatte ihre Stimme gar nicht angehoben. Trotz der gewaltigen Menschenansammlung, trotz Nicks bedrohlicher Anwesenheit fühlte es sich immer mehr wie eine private Unterhaltung an. Mark erinnerte sich an die alten Zeiten, als sie gemeinsam Tee getrunken und nie über etwas Ernsthafteres als Kuchen gesprochen hatten. Und nun stand Cherubina an der Spitze einer Lynchjustiz und schaute ihn mit einem Ausdruck an, in dem Wut und Verzweiflung lagen.
»Wir wissen alle, dass Lily nur ein Symbol ist«, sagte sie. »Ihre Ideen – davon träumen wir alle. Ich wünschte, ich hätte bei dem einen Mal, bei dem ich ihr begegnet bin, nur die Hälfte von dem gewusst, was ich jetzt weiß. Aber das ist nicht ihre Stadt. Lily ist nicht mehr. Es ist jetzt unsere Stadt.«
»Nein«, entgegnete Mark. »Sie lebt. Aber du hast recht: Es ist unsere Stadt. Unsere Zukunft. Und es liegt an uns, unseren eigenen Weg zu gehen.« Er schaute sich in der Menge um, bemüht, sie alle in seinen Blick einzuschließen. »Ich mochte Crede nicht, aber als er starb, hat er euch allen die Chance
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