Das Land des letzten Orakels
gegeben zu kämpfen. Und jetzt wollt ihr damit anfangen, indem ihr einen harmlosen alten Mann lyncht?« Er schaute Ruthven an, der steif und stolz dastand, und machte ein finsteres Gesicht. »Er hat unsere Aufmerksamkeit gar nicht verdient.«
Lord Ruthven bewegte sich schneller, als Mark es einem Mann seines Alters zugetraut hätte. Der Schlag war zwar nicht fest, kam aber so unerwartet, dass Mark zurücktaumelte.
»Wie … wie können Sie es wagen !«, fauchte Ruthven Mark mit vor Wut verzerrtem Gesicht an. »Ich war Lordoberrichter! Ich bin hier der bedeutendste Gefangene! Ich habe den Waage-Bund geleitet … Ich war … ich war …«
Mark unternahm nichts, sah ihn bloß an.
Verzweifelt wandte sich Ruthven der Menge zu. »Ich kenne Geheimnisse … weiß von Mächten, von denen ihr gar keine Vorstellung habt! Ich wäre beinahe Direktor geworden! Ich bin bedeutend! Ich bin wichtig … Ihr könnt doch nicht … ihr könnt mich nicht ignorieren …«
Tatsächlich aber kamen in der Menge Gespräche auf, und die Leute wandten sich von ihm ab.
Nick warf das Seil zu Boden. »Wir haben heute vieles erreicht«, rief er. »Die stärksten Kämpfer sollten jetzt wieder die Barrikaden verstärken, bevor noch mehr Eintreiber auftauchen. Alle anderen kommen mit mir, im Rad gibt es was zu essen.«
Als er an Mark vorbeiging, um das Holzgerüst zu verlassen, bedachte er ihn mit einem kurzen Blick. Seltsamerweise schien ein Anflug von Respekt darin zu liegen. Mark wartete, bis er sicher sein konnte, dass die meisten der Versammelten ihn nicht mehr beobachteten. Dann verließ ihn die ganze Anspannung, die ihn zuvor aufrecht gehalten hatte, und er geriet ins Schwanken. Hinter ihm tauchte sein Vater auf und half ihm, Haltung zu bewahren.
»Dad«, sagte er leise. »Lass mich das nie wieder tun.«
»Ich dachte, du wolltest nicht, dass ich dir sage, was du tun sollst«, erwiderte Pete, dessen Stimme von Erleichterung und Stolz erfüllt war.
»Ja, und sieh dir an, wohin das führt«, murmelte Mark und merkte, wie seine Beine zitterten.
Pete lachte kurz. »Ich glaube, das hier ist noch nicht ganz vorbei«, sagte er und wies in eine bestimmte Richtung.
Marks Blick fiel vorbei an dem ehemaligen Lord Ruthven, der in sich zusammengesackt, niedergeschmettert und stumm an der Stelle kniete, über der zuvor das Seil gehangen hatte, und richtete sich auf die kleiner gewordene Menschenmenge.
Dort sah er Benedicta, die lächelte und winkte. Und neben ihr Cherubina, die ihn mit zorniger Miene anstarrte.
Später, viel später, bekamen Mark und Cherubina Gelegenheit, sich zu unterhalten.
Falls Mark geglaubt hatte, die Menschen würden sich einfach friedlich verteilen, dann hatte er sich getäuscht. Die Revolutionäre suchten seit Credes Tod nach jemandem, der sie anführen konnte, und nun war plötzlich Mark ins Rampenlicht getreten.
Es war, als würde sich auf einmal die halbe Stadt daran erinnern, dass im Tempel alles begonnen hatte. Sie wurden mit Hilfsangeboten überhäuft. Darunter waren auch Angebote, ihnen dabei zu helfen, die Barrikade gewaltsam zu überwinden.
Aber das war das Letzte, was ihnen vorschwebte; es gab viel zu viel zu tun. Theo stellte Gruppen zusammen, um die am schlimmsten betroffenen Bezirke auszukundschaften und herauszufinden, wer vom Hungertod bedroht war. Nick hielt seine Anhänger im Zaum. Selbst Miss Devine, so still und leise wie immer, hatte es ihnen ohne Murren gestattet, in ihrem Laden zusammengerolltes Bettzeug zu lagern, und gab ein wenig ihrer eigenen Lebensmittelrationen ab. Nicht, dass dies Mark überrascht hätte – sie war eine Frau, die wusste, was gut fürs Geschäft war. Ein oder zwei Anhänger hatten sich bereits wieder in ihren Laden gewagt, um eine billige Probe abgefüllten Gleichmuts zu kosten.
Daher bekam Mark erst am Abend, als die Sonne nur noch eine kleine rötliche Linie über den Giebeln der Häuser war, Gelegenheit, sich zu setzen. Pete, Verity und Benedicta waren nach wie vor draußen und beruhigten diejenigen, die mit weiteren Kämpfen rechneten. Zu guter Letzt sanken Mark, Theo und Cherubina auf einer ramponierten Bank erschöpft zusammen, zwischen sich lediglich ein dringend nötiger Krug mit Wasser.
Eine ganze Weile sagte niemand etwas, genossen sie alle die Möglichkeit, sich ein wenig zu entspannen. Doch Cherubina löste ihren Blick nicht von Mark. Ohne davon gekostet zu haben, ließ dieser das Wasser in seinem kleinen Holzbecher kreisen. Theo hingegen, durstig nach der
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