Das Land des letzten Orakels
stundenlangen Arbeit, kippte seinen Becher Wasser sofort herunter und machte sich daran, noch einmal nachzuschenken, indem er den Krug Cherubina hinhielt. Diese schüttelte den Kopf, ohne ihren Blick von Mark abzuwenden.
»Und?«, fragte Mark schließlich, zu müde, um Spielchen zu spielen.
»Du hast es kaputtgemacht«, sagte sie. Ihre Stimme klang leise, doch irgendwie gefährlich. »Wir hätten weitermachen können. Ein großer Sieg, das ist alles, was wir brauchen.« Sie blickte auf ihre Hände hinab. »Wir hätten das Direktorium stürmen können.«
»Hättet ihr nicht«, erwiderte Mark müde. »Meinst du, Snutworth würde das Direktorium unbewacht lassen?«
»Es wäre nicht der Mühe wert gewesen«, fügte Theophilus sanft hinzu, während er seinen Becher erneut füllte. »So wie die Dinge liegen, habt ihr heute einen großen moralischen Sieg davongetragen. Viele Menschen haben dabei ihren Glauben an die Sache zurückgewonnen. Vielleicht gibt es doch noch eine Chance auf Frieden …«
»Frieden!«, erwiderte Cherubina voller Verachtung. »Ich hatte mich auf die einzige Art um Frieden bemüht, auf die er je zustande kommen wird. Das ist es, was Crede getan hätte – er hätte weiter angegriffen und bis zum letzten Mann gegen den Direktor gekämpft. Das war alles, was ich wollte. Etwas bewegen.«
»Nein«, unterbrach Mark sie. »Du wolltest Rache.« Er starrte ihr in die Augen. Sie sah jetzt nicht mehr aus wie ein Kind. »Du wolltest Snutworth für die ganze Zeit bestrafen, in der du seine Gattin warst«, fuhr er fort. »Das verstehe ich. Es muss schlimmer gewesen sein, als wir uns vorstellen können. Aber du kannst dafür nicht Tausende Menschen in den Tod schicken.«
Cherubina zog ein finsteres Gesicht, antwortete jedoch nicht. Mark wusste nicht, was er sagen sollte. Trotz allem wollte er sie nicht zum Feind haben. Sie war in ihrem ganzen Leben in verschiedene Rollen gedrängt worden – verzogenes Kind, gehorsame Gattin, Credes symbolische Kämpferin. Er wollte, dass sie begann, selbstständig zu denken. Doch es standen zu viele Menschenleben auf dem Spiel. Heute hatten sie ein Blutbad verhindert, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Sache ohne ein solches enden würde.
Theo stellte seinen Becher ab und stand auf, um Cherubinas Hand zu ergreifen.
»Miss Cherubina«, sagte er sanft. Sein schmales, erschöpft wirkendes Gesicht war voller Mitgefühl. »Wir verstehen Sie wirklich. Ich bin mir ganz sicher, dass jeder dieser Menschen echten Groll hegte, der in ihm den Wunsch auslöste, jemanden zu bestrafen. Aber verstehen Sie denn nicht? Egal, wie weit wir uns zurückerinnern, jeder in Agora ist auf sich allein gestellt gewesen, hat gegen Freunde wie Fremde gleichermaßen angekämpft, um sich nach oben zu arbeiten. Jetzt aber, durch die Trennung, sind wir zusammengewachsen!« Sich in seine Worte hineinsteigernd wischte sich Theo über die Stirn. »Die Leute helfen einander, bilden Gruppen. Und durch eine Laune des Schicksals erwarten sie von uns, dass wir sie anführen.« Er hielt inne und schüttelte mit trüben Augen den Kopf. »Aus dieser Chance darf nicht sinnlose Gewalt entstehen, nicht jetzt, da wir wirklich etwas bewirken können. Nicht wenn« – er schwankte – »nicht wenn wir zu Ende bringen können, was Lily begonnen hat, und diese Revolution in etwas Gutes verwandeln … nicht wenn« – er blinzelte heftig – »nicht wenn wir doch in der Zukunft …«
Er fiel auf die Knie. Einen Moment lang dachte Mark, er übertreibe es mit seiner dramatischen Rede und fing an zu grinsen. Dann bemerkte er die plötzliche Blässe, die Theos Gesicht überzog.
»Theo?«, fragte er, plötzlich alarmiert. »Geht es dir gut?«
Theo schaute mit wirrem Blick von einem zum anderen und ergriff dann Cherubinas Hand so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Erschreckt senkte sie den Blick, unsicher, was sie tun sollte.
»Mark, was hat er?«
Mark schaute zu ihr auf. »Schnell! Hol Benedicta; sie ist die beste Pflegerin, die wir haben.«
Cherubina nickte und bahnte sich mühelos einen Weg durch die plötzlich aufmerksam gewordenen Menschen.
»Theo? Theo!«, rief Mark. »Was ist denn? Was soll ich tun?«
Doch Mark konnte lediglich hilflos mit ansehen, wie Theo die Augen verdrehte, zu Boden fiel und sich krümmte.
Bis Benedicta herbeigeholt worden war, lag er reglos und flach atmend da.
»Ist es eine der Krankheiten?«, fragte Mark, während Benedicta Theo untersuchte. »Soll ich eine Medizin
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