Das Land des letzten Orakels
Traum eines Wahnsinnigen …«
»Pauldron?«, unterbrach ihn Ben. »Meinen Sie den?«
Ghast richtete seinen Blick auf sie. »Der ist es, roter Engel. Er hat Agora als einen wunderschönen Traum bezeichnet. Tja, vielleicht ist er jetzt aufgewacht. Oder vielleicht schläft er ja für immer.« Er wies auf den Galgen, von dem Nick gerade die hin und her schwingende Leiche abschnitt. »Ein Feind der neuen Ordnung, genau wie der alten«, sagte er, gelassener als zuvor.
Mark schaute wieder Ben an. Tief in seinem Innern empfand er ein wenig Freude. Auch auf Bens Gesicht sah er ein ganz kurzes Leuchten und konnte es ihr kaum verübeln. Dieser wahnsinnige Eintreiber hatte ihre Schwester ermordet und ihren Bruder schlimm verletzt. Und dennoch …
»Er hat ständig gesagt, Agora wäre nicht echt«, murmelte Ben nachdenklich, während sie zusah, wie Pauldrons Leiche zu Boden fiel. »Und in gewisser Weise ist es das ja auch nicht. Jedenfalls hat das Orakel das gesagt.« Sie runzelte die Stirn. »Vermutlich werden wir nie wirklich erfahren, was ihm durch den Kopf gegangen ist.«
»Jetzt ist es zu spät …« Ghast lachte und schlug vor Vergnügen die Hände zusammen. »Aber das war erst die Vorspeise. Mit nur einem wird sich die Meute nicht zufriedengeben. Aha! Hier kommt das Hauptgericht.«
Das Stimmengewirr in der Menge wurde hitziger. Mark reckte den Hals, um zu sehen, wer nun zum Galgen geführt wurde.
Es war ein stolzer alter Mann mit stahlgrauem, offenem und zerzaustem Haar, der sich seine einstmals gute Kleidung so würdevoll wie möglich gerichtet hatte. Mark erkannte trotz der Veränderung des Mannes, dass er ihn schon einmal gesehen hatte, jedoch nur selten ohne Perücke und Amtskette.
»Lord Ruthven«, hauchte er.
»Er saß in deiner Zelle, kleiner Stern«, erzählte Ghast, während er sich schadenfroh die Hände rieb. »So stolz, so überzeugt von seiner Bestimmung. Nun ist er hier. Ein Feind des Volkes, Feind von allen.« Ghast wurde lauter. »Tod für ihn! Tod für den Verräter!«
Die Menge um sie herum griff die Parole auf und fiel in den Sprechchor ein. Nick wies auf den ehemaligen Lordoberrichter und begann damit, eine Liste seiner Verbrechen vorzulesen. Der Hüne sprach mit tiefer und langsamer Stimme, aber Mark verstand jedes Wort.
»Dieser Mann war ein Anführer des alten Regimes«, sagte Nick, die lauter werdenden Rufe der Menge übertönend. »Er muss dafür bestraft werden, dass er sich gegen das Volk gewendet, die Eintreiber angeführt und Gesetze befolgt hat, die zum Hungertod führten, und dafür, dass er Lily, das große Symbol unserer Revolution, bedroht hat.«
Beifall brandete auf. Es war ein Geräusch, das nach Blut verlangte.
»Nein«, sagte Mark leise.
»Was?«, fragte Ben und wandte sich ihm abrupt zu.
»Nein, das ist nicht richtig«, sagte Mark. Er spürte, wie sich ihm die Brust zusammenschnürte. Alles hier fühlte sich falsch an. Er schaute in die Menge. Unter ihr befanden sich kleine Kinder, die auf den Schultern ihrer Eltern saßen und Hurra riefen. Da waren alte Männer und Frauen, die winkten und vor Wut und Freude schrien. Und da oben stand sein Vater, der mit langsamen, schleppenden Bewegungen die Schlinge vorbereitete.
»Mark?«, fragte Ben alarmiert. »Worüber denkst du nach? Du wirst doch nicht …?«
Doch Mark setzte sich in Bewegung, bevor sie ihn aufhalten konnte, bevor er selbst begreifen konnte, was für ein Wahnsinn das war. Alles war heute wahnsinnig, warum sollte er es dann nicht auch sein?
Im Moment drängte sich die Menge um Pauldrons Leiche, wodurch sich der Weg zum Galgen ein wenig lichtete und es Mark nicht ganz so schwerfiel, sich einen Weg dorthin zu bahnen. Er drängte sich an den gestikulierenden und dicht beieinanderstehenden Menschen vorbei, bis er unbemerkt am Sockel des Galgengerüsts angelangt war.
Keuchend trat Benedicta hinter ihm aus der Menschenmenge.
»Tu es nicht«, sagte sie. »Das ist Wahnsinn, Selbstmord, es ist …« Sie begegnete seinem Blick. Er hoffte, dass sich auf seinem Gesicht Entschlossenheit spiegelte. Sie seufzte. »Warum mache ich mir Sorgen?«, sagte sie und kniete sich hin. »Ich mache dir eine Räuberleiter.«
Mark brachte ein angespanntes Lächeln zustande und trat auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Sie war erstaunlich stark.
Die Menschen waren so abgelenkt, dass für einen Moment niemand den Neuankömmling auf der wackligen Plattform registrierte. Nur Pete drehte sich zu ihm um, und seine Augen weiteten
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