Das Land des letzten Orakels
erneut spürte Lily ihre volle Aufmerksamkeit auf sich gerichtet. »Wo – kommst – du – her?«, fragte sie, jedes Wort so in die Länge ziehend, als spräche sie mit einem Einfaltspinsel. Trotz allem hielt Lily sich im Zaum.
»Agora«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Das heißt … hierher komme ich aus Giseth, aus der Kathedrale der Verlorenen. Aber eigentlich komme ich oben aus den Bergen, mit Mark, und …«
Lily verstummte. Die beiden schauten sie sonderbar an. Sie wirkten verwirrt, was nach Lilys wirrer Erklärung wenig überraschend war. Doch es lag nun auch noch etwas anderes in ihren Augen, nämlich eine Faszination, die beinahe gierig wirkte.
»Ich bin Tertius«, sagte der junge Mann, voller Ehrfurcht in der Stimme. »Und du musst uns davon berichten!«
»Nicht hier«, unterbrach ihn Septima. Sie schaute sich um. »Wir sind schon zu lange hier, Tertius. Die Wachen werden nicht mehr weit sein.«
Tertius nickte, plötzlich wieder ernst. »Sollen wir sie mitnehmen?«, fragte er. »Oder lassen wir sie hier und kommen dann wieder zurück?«
Entgeistert blickte Lily die beiden an. »Ihr wollt mich doch nicht hier zurücklassen?«, fragte sie entsetzt. »Ihr habt mir noch immer nichts gesagt! Wo bin ich? Und was macht ihr hier?«
Septima wandte sich Lily zu. »Du befindest dich in den äußeren Höhlen des Landes Naru. Wir sind auf der Flucht.« Sie neigte den Kopf zur Seite, als denke sie über etwas nach. »Und ja, du kannst mit uns kommen. Schließlich bist du unser Wunder.« Sie schnippte mit den Fingern. »Komm schon, wir haben einen weiten Weg vor uns.«
Ohne lange zu überlegen, machten die beiden auf dem Absatz kehrt und marschierten los.
Unbehaglich verweilte Lily noch einen Moment. Die beiden hatten etwas Merkwürdiges an sich. Selbst ihre Art zu gehen war sonderbar – gebückt, aber fließend, tänzerisch. Sie schwangen ihre Laternen in kreisförmigen Mustern herum, sodass bizarre Schatten auf die Wände und Decken der Felsen geworfen wurden. Lily wusste nichts über sie. Es war durchaus möglich, dass sie sie in eine Falle lockten. Freundlich wirkten sie nicht gerade, und die ungemeine Faszination, die sie ihr gegenüber empfanden, schien von jetzt auf gleich zu kommen und zu gehen.
Andererseits wollte sie nicht denjenigen begegnen, die sie durch diese endlose, von Echos erfüllte Dunkelheit verfolgten.
»Ich bin dicht hinter euch«, sagte sie.
Sie gingen schweigend, was Lily entgegenkam. Es verschaffte ihr Zeit zum Nachdenken.
Nun, da sie nicht länger Angst hatte, gestand sich Lily ein, dass ihr nicht ganz klar war, was sie eigentlich hier in den Tiefen der Erde wollte.
Erst gestern noch war sie sich sicher gewesen. Nach vielen Tagesreisen durch Wald und Sumpf hatte sie endlich die Kathedrale der Verlorenen erreicht. Sie hatte einen Angriff ihres eigenen Führers abgewehrt, der vom Alptraum in den Wahnsinn getrieben worden war. Schließlich hatte sie im Kreuzgang der Kathedrale gestanden und von deren vernarbtem Pförtner Antworten verlangt. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater dorthin gelangt und hatte ihn auch gefunden – im Sterben liegend. Nur ein Brief, den er geschrieben hatte, als es ihm noch besser gegangen war, hatte sie informiert. Sie hatte am Bett ihres Vaters gesessen und seine Hand gehalten, als er starb. Danach erinnerte sie sich lediglich an einen Schleier der Trauer und Wut und an die Entschlossenheit, etwas zu unternehmen, irgendetwas, das dieser Reise Bedeutung verleihen würde.
Man hatte ihr erzählt, sie sei ein Richter – der so genannte Gegenspieler. Mark und sie seien dazu bestimmt, Agora und Giseth für immer zu verändern. Doch Mark war verschwunden, vom Orden der Verlorenen entführt, und der allmächtige Bischof entpuppte sich als eine auf seinem Thron verwitterte Leiche. Es hatte den Anschein, als bewahrheiteten sich diese ganzen Prophezeiungen nicht.
In ihrer Schürzentasche tastete sie nach dem Brief, den ihr Vater ihr vor seinem Ende gegeben hatte. In dem Brief stand: Die Wahrheit liegt unten. Wo die Finsternis herrscht. Als sie daher das versiegelte Grab an der tiefsten Stelle der Krypta in der Kathedrale aufgebrochen und darin Stufen entdeckt hatte, die hinab unter die Erde führten, wusste sie, welchen Weg sie nehmen musste, falls sie jemals die ersehnten Antworten finden wollte.
Doch nun, da sie hier war, hatte sie das Gefühl, als ob das alles nicht real sei. Wenn sie diesen beiden Fremden folgte, die sich so sonderbar verhielten und
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