Das Land des letzten Orakels
»Ich hatte noch nicht gehört, dass sie jemand so beschrieben hat. Wir kennen zwar alle möglichen Fakten, sind aber selbst noch nicht dort gewesen. Manchmal ist es schwer, die einzelnen Informationen zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Wie viele Menschen leben dort?«
»Was?«, fragte Lily, der noch immer schwummrig war. Wie konnten sie von den Bezirken wissen, ohne Agora zu kennen?
»Wie viele Menschen leben in dieser Stadt?«
»Äh …« Lily runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht … sie ist riesig …«
»Mehr als 576?«, wollte Tertius wissen.
Lily blinzelte ungläubig. »Ja, viel mehr. Mehr als hunderttausend, mindestens.«
Tertius stieß einen Laut des Erstaunens aus. Septima hörte auf damit, in Bodenhöhe zu suchen, drehte sich um und starrte Lily an.
»Das ist unmöglich!«, sagte sie. »Dafür gäbe es nicht genug zu essen! Bei uns gibt es ständig Engpässe, und dabei sind wir nur …«
»576?«, mutmaßte Lily.
Tertius nickte. »Tja«, fügte er dann hinzu, »jetzt, da wir entkommen sind, 574.«
Lily runzelte die Stirn. »Entkommen?«, fragte sie.
»Wir sind auf der Flucht«, schaltete sich Septima ein, während sie sich wieder ihrer Suche widmete. »Sie verfolgen uns jetzt schon drei Wochen. Lange dürfen wir hier nicht verweilen, sonst holen sie uns ein.«
Lily verzog das Gesicht. Es war wohl ihr Schicksal, auf Verbrecher zu treffen. Sie hatte gehofft, von dieser neuen Gesellschaft akzeptiert zu werden.
»Wer wird uns einholen?«, wollte sie wissen, bemüht, dabei gleichgültig zu klingen.
»Die Wächter … Aha!« Septimas Ton klang triumphierend. Mit einer überschwänglichen Geste schob sie einen Haufen loser Steine beiseite und zog ein dickes, wulstiges Bündel aus Tuch hervor, das mit einer Schnur zugebunden worden war. »Ich wusste, dass ich hier irgendwo ein Proviantpaket zurückgelassen hatte.« Sie beäugte Lily kritisch. »Ich denke, Lily hat uns genug Wissen gegeben und sich ein wenig zu essen verdient, findest du nicht?«
Tertius nickte widerwillig, worauf Septima die Schnur aufband.
»Du bist jetzt an der Reihe, eine Frage zu stellen«, regte sie an, während sie das Tuch ausbreitete. »Nachdem du uns von den Hunderttausenden erzählt hast …« Verträumt schüttelte sie den Kopf. »Das ist ein echtes Wunder. Das ist etwas Besonderes. Du darfst fragen, was du willst.«
Lily runzelte die Stirn. Septima packte einen Laib Brot und ein großes Stück Käse aus. Besonders alt wirkte beides nicht, doch Lily bezweifelte, dass das Essen hier unten produziert worden war. Es sah hier nicht gerade nach Kühen und Korn aus.
»Ihr seid auf der Flucht, sagtest du?«, fragte Lily und brach sich eine Stück Käse ab.
Septima nickte unbekümmert. »Schon seit Wochen«, verkündete sie beinahe stolz. »Wir sind ihnen natürlich immer wieder entkommen, aber sie sind uns dicht auf den Fersen. Wir müssten bald wieder auf die Schienen stoßen. Vielleicht müssen wir uns erneut in die Essenshöhle in der Nähe des Mittelpunkts schleichen, um Vorräte zu besorgen.«
Lily langte nach dem Brot, um sich ein Stück davon abzubrechen; der Käse hatte ihren Hunger nur noch verstärkt. Als sie dies tat, zog Tertius abrupt seine Hand zurück. Lily war dies zuvor bei beiden aufgefallen. Sie setzten sich zwar nahe beieinander hin, berührten sich jedoch nie.
»Der Mittelpunkt?«, fragte Lily, bemüht, die einzelnen Informationen zu einem Ganzen zu formen.
»Der Mittelpunkt der inneren Höhlen.« Septima formte mit ihren Händen eine Kuppel. »Das ist meilenweit von hier entfernt. Wir wollen noch lange nicht dorthin zurückkehren. Wenn wir geschnappt werden …« Sie kauerte sich zusammen. »Es heißt, sie werfen einen mit allen möglichen anderen Gefangenen in eine winzige Höhle. Man spürt deren Atem auf dem Gesicht!« Sie schauderte. »Das ist ekelhaft.«
Tertius streckte die Hand nach ihr aus und winkte damit. Es sah aus wie eine beruhigende Geste, doch erneut ohne Berührung. Respektvoll rückte Lily ein wenig von den beiden ab.
»Warum seid ihr denn davongelaufen?«, wollte Lily wissen. »Was habt ihr getan?«
Tertius verschränkte abwehrend die Arme. »Das behalten wir für uns. Oder hast du uns auch dein größtes Geheimnis verraten?«
»Wir wollten etwas erfahren, das verboten war«, gab Septima zu. »Wir wollten nicht bloß Geheimnisse einhandeln, wir wollten ein Artefakt aus der Welt oben. Etwas, mit dem wir hätten angeben können, etwas Solides. Wir wollten ein Wunder
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