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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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lächelst du dann, Hexe?«
    Sie begegnete seinem Blick. Irgendwo dort draußen in der Stadt war ein seltsames Rumoren zu vernehmen, so als würden sich uralte Zahnräder knirschend in Bewegung setzen. Sogar hier unten spürten sie es.
    »Weil ich bloß der Vorbote bin«, sagte sie leise. »Das habt Ihr nie verstanden, Wolfram. Wir – der Orden, der Zirkel – waren immer hier, um Mächte zu verkörpern, die größer sind als wir selbst.« Als das Geräusch lauter wurde, schaute sie hoch. »Und nun, so scheint es, ist die Zeit gekommen, dass eine dieser Mächte erscheint.«
    Wolfram lief es eiskalt über den Rücken. »Was hast du getan?«, fragte er heiser.
    Elespeth begegnete seinem Blick und gab ihm die Antwort.
    »Ich haben ihnen die Wahrheit gebracht«, sagte sie.
    Laud drehte bei. Vor ihnen öffneten sich die Tore, indem sie sich langsam nach außen bewegten und eine Welle auf dem See auslösten, die das Schiff schaukeln ließ. Sie konnten eine dunkle Fläche Wasser erkennen und die erste einer Reihe von Schleusen, die sie zu ihrem Ziel führen würden. Der Rauch aus dem Schornstein erfüllte die Luft, während sie ihren Kurs ausrichteten und in die Dunkelheit hineinfuhren.
    Lily stand am Bug und jauchzte vor Freude. Owain hatte es geschafft. Er hatte die Schleuse geöffnet, den Weg nach Agora. Nun waren sie ganz dicht davor …
    Lady Astrea blickte von Staunen ergriffen durch ein Fenster in einem der Türme des Direktoriums. Zu ihren Füßen lag ein umgestürztes Tablett, die Teetassen waren zersprungen, und der Tee sickerte in den Teppich.
    Die Mauer öffnete sich. Die Stadtmauer!
    Hinter der Barrikade, wo der Fluss aus ihrer Sicht ver schwand, begannen sich die großen Mauern zu bewegen. Die plötzlichen Vibrationen ließen gegen die Mauern gebaute Häuser knarren und ächzen. Sie hörte laute Rufe und Schreie. Dann Laute des Erstaunens. Eine ganze Stadt hielt den Atem an.
    Nein, es war kein Teil der Mauer. Es war grau und uralt, und seine Vorderseite bestand aus Stein, aber es war ein Tor. Ein unglaublich großes Tor aus Eisen und Holz glitt auf die Seite und wühlte das Wasser des Flusses auf; Rauch und Dampf quollen aus der Öffnung heraus. Etwas war hierhergekommen, etwas aus der öden, leeren, nicht existenten Welt …
    Ben lief die Stufen vom Dach des Tempels hinab. Theo, der gerade einen Patienten behandelte – den ersten, seit er sich von seiner Vergiftung erholt hatte –, blickte auf. Cherubinas Kinnlade klappte herunter.
    Mark rannte nach vorn. »Ben, was ist da los?«, rief er, den Lärm der draußen tobenden Stimmen übertönend. Das tiefe, langsame Rumpeln wurde von Moment zu Moment lauter.
    »Die Mauer …«, stammelte Ben, nach Worten ringend. »Die Stadtmauer … sie öffnet sich … und etwas kommt durch sie herein. Es sieht aus wie ein Schiff. Ich konnte es nicht richtig erkennen, aber da stand jemand am Bug, und er sah aus wie … wie …«
    Sie brauchte es gar nicht auszusprechen. Jeder im Raum wusste, dass wirklich nur eine Person einen solchen Auftritt vollbringen konnte.
    »Es ist Lily«, stieß Mark überrascht hervor. »Sie muss es einfach sein. Sie ist wieder da.«
    Snutworth ging mit großen Schritten durch das Direktorium. Um ihn herum gerieten die Würdenträger in Panik, marschierten Eintreiber auf, herrschte Chaos. Er selbst hingegen war vollkommen gelassen. Das war er immer.
    »Protzig, Miss Lilith«, sagte er leise zu niemandem im Besonderen. »Aber wirkungsvoll. Durch Sie haben sich soeben eher geistlose Maßnahmen erübrigt.« Dann lächelte er. »Wir können also direkt zum letzten Akt schreiten. Wie erfreulich.«
    Danach beobachtete er stumm seine ängstlichen und erschreckten Angestellten. Es war eine schöne Darbietung.
    Mark drängte sich durch die Menschenmenge, die sich auf den Wassermann-Docks versammelt hatte. Er wusste, dass sich Ben und Cherubina irgendwo in dem Getümmel hinter ihm befanden, aber in dem dichten Gedränge hatten sie einander aus den Augen verloren.
    Normalerweise hätten sie sich allein niemals in diesen Teil der Stadt gewagt, in dem seit dem Rückzug der Eintreiber mehr oder weniger die Banden herrschten. Doch heute, das wusste er, würden sie alle in Sicherheit sein – niemand in dieser Menge hatte mörderische Absichten.
    Normalerweise hätte ihn jeder bemerkt – den Jungen, der vor dem Gefängnis eine Rede gehalten hatte, einer der Leiter des Tempels. Nun aber würdigten ihn die Bewohner des Wassermann-Bezirks kaum eines Blickes. Die Luft

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