Das Land des letzten Orakels
müde, zu erleichtert, wieder im Kreis von Freunden zu sein, als dass sie noch etwas anderes hätte empfinden können.
»Meine Mutter hat vergessen, dass es mich jemals gegeben hat«, sagte Lily leise. »Mein Vater hat mich durch die Welt geschickt, um mich von einer Art uralter Verschwörung fernzuhalten. Ich glaube, eine richtige Familie hatte ich nie.«
»Wirklich?«
Lily dachte an Laud, Mark, Ben und Theo, die ein Stockwerk tiefer schliefen, und musste lächeln.
»Na ja, jedenfalls nicht Blutsverwandte«, sagte sie nachdenklich.
Verity trat einen Schritt vor. »Ich wollte dir etwas sagen«, erklärte sie, über die eigenen Worte stolpernd. »Ich wollte dich wiederfinden, nachdem ich erkannt hatte, dass die Waisenhäuser in Agora sich nicht so um dich kümmern würden, wie es in einem Dorf in Giseth der Fall gewesen wäre. Ich wollte dich als meine Tochter annehmen, auch wenn ich selbst damals erst ein Mädchen war. Der Direktor wollte es mir nicht erlauben, aber das hätte mich nicht davon abhalten dürfen …«
»Nein«, unterbrach Lily die ältere Frau und streckte die Hand nach ihr aus. »Das hättest du nicht tun können. Der Direktor hätte es dir nicht gestattet. Du wärst ins Gefängnis geworfen worden oder Schlimmeres, nur damit die Geheimnisse des Waage-Bundes bewahrt würden, und ich hätte im Büro des Direktors niemanden an meiner Seite gehabt, der dafür sorgte, dass ich in Sicherheit war.«
Verity sah sie wieder an. Ihr Blick war voller Hoffnung. »Dann verzeihst du mir also?«
Lily runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Du hast immerhin ein Baby genommen und es auf den Stufen abgelegt, nur weil dein großer Bruder es dir befohlen hatte.«
Verity fuhr zurück. Nun war sie nicht mehr eine Frau von dreißig Sommern. Sie war das erschreckte Mädchen, das Lily in ihrer Traumvision gesehen hatte. Das Mädchen, das ihren Bruder vergötterte und glaubte, er könne nichts Böses tun. Das Mädchen, das verzweifelt an Ideale glauben wollte, weil die Welt zu groß und zu kompliziert war, als dass sie sich je sicher darin fühlen konnte.
Lily wollte nicht mehr in der Vergangenheit leben. »Ja«, sagte sie sanft. »Ich verzeihe dir.«
Lily ließ zu, dass Verity den Kopf auf ihre Schulter bettete. Die ältere Frau weinte nicht und sagte auch nichts. Sie schloss sie auch nicht richtig in die Arme. Einen Moment war Lily fast enttäuscht, so als hätte es eigentlich eine letzte große Offenbarung geben sollen, einen großen Moment, in dem sich Tante und Nichte gegenseitig beteuerten, immer füreinander da zu sein.
Aber … so war ihr ganzes Leben gewesen. Das war das, was der Waage-Bund gewollt hatte. Das war die Gegenspielerin in ihr, deren Worte und Handlungen die Welt veränderten.
Doch heute Abend war sie bloß Lily. Hier, mit ihrer Tante Verity, dem einzigen Mitglied ihrer Familie, das sie nicht verloren hatte.
Und das hatte einen ganz eigenen Glanz.
Lily wurde von Geschrei wach.
Sie fuhr hoch. Unten auf den Straßen waren hektische Schritte zu vernehmen, doch das Geschrei selbst erklang aus der Ferne. Als sie über die Brüstung spähte, konnte sie eine Staubwolke und Rauch bei den Türmen des Zwillinge-Bezirks auf der anderen Seite der Stadt ausmachen. Immer wieder vernahm sie ein leises Grollen, so als würden altehrwürdige Gebäude zerfallen.
Sie zog sich ihr Kleid über das Nachthemd und stolperte die Treppe hinunter, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. Unten angekommen stellte sie fest, dass der Tempel fast menschenleer war. Nur Mark und Theo waren geblieben und studierten gerade einen Stadtplan von Agora, den sie auf dem Altar ausgebreitet hatten.
»Was passiert da?«, fragte Lily, als die beiden aufschauten. Mark und Theo wechselten besorgte Blicke.
»Die Eintreiber haben im Zwillinge-Bezirk die Barrikaden durchbrochen«, erklärte Mark und wies dabei auf die Karte. »Wir haben es erst vor einer Stunde erfahren. Die Leute leisten Widerstand. Sie haben bereits weitere Gebäude in Brand gesteckt – eines der Museen ist schon vor Tagesanbruch in Flammen aufgegangen.«
Lilys Müdigkeit verflog augenblicklich. »Rücken die Eintreiber vor?«, wollte sie wissen und trat eilig zu ihnen hinüber.
»Noch nicht«, erwiderte Theo besorgt. »Die Bewohner des Zwillinge-Bezirks halten sie derzeit noch in Schach. Aber sie haben weder einen Anführer noch Waffen und ganz sicher keinen Plan. Es könnte noch viel schlimmer werden.«
»Ich sollte dorthin gehen und sehen,
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