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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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der Nähe der Barrikaden befanden. Unwillkürlich musste sie an die Gründer denken, die vorhergesagt hatten, sie werde Feuer und Zerstörung bringen, wo immer sie hinging.
    Nun, dem mochte so sein, dachte sie, während sie sich ihr Tuch ein wenig enger um die Schultern zog. Ja, alles, was sie ausgelöst hatte, war nicht gut gewesen. Selbst wenn sie diese Schlacht gewannen, würde es Jahre dauern, um Agora wieder neu aufzubauen, und sie war verantwortlich für Narben in ihrer Heimat, die niemals verheilen würden. Doch sie erinnerte sich auch an die Gesichter der Menschen, die heute gekommen waren, um sie zu begrüßen. Erwachsene Männer hatten geweint, Kinder gelacht, eine ganze Stadt glühte vor Hoffnung und dem Glauben an die Zukunft.
    Es war dumm von ihr gewesen, Perfektion zu erwarten, das wusste sie jetzt. Perfektion war das, was der Waage-Bund angestrebt hatte. Aber der war an die Vergangenheit gebunden. Seine Mitglieder hatten nicht geahnt, dass sich die Länder über die Grenzen ihres Experiments hinaus entwickeln würden. Die Menschen von Agora aber hatten sich davon losgerissen. Sie hatten eine echte Chance, etwas zum Guten hin zu verändern, und ganz gleich, ob sie es schaffen oder scheitern würden, zumindest hatten sie eine Wahl getroffen. Das war es wert zu träumen.
    Sie stützte sich mit den Ellbogen auf die Brüstung, und zum ersten Mal seit fast zwei Jahren blickte sie auf Agora. Die anderen waren schon vor Stunden zu Bett gegangen, aber sie selbst hatte nicht schlafen können, sondern war auf die Dachterrasse des Tempels hinaufgeschlendert, um frische Luft zu schnappen. Eine ruhige Nacht war es nicht. Irgendwo in der Nähe flackerten Feuer, mit denen die Stadt übersät zu sein schien, und jemand sang ein Marschlied, genau wie die Lieder, welche die Menge bei ihrer Rückkehr gesungen hatte. Hätten Mark und Ben sie nicht hastig durch die Hintergassen geführt, hätten die Massen sie wahrscheinlich an die Barrikaden geschleppt und dazu genötigt, eine Rede zu halten. Widerwillig hatte Lily bereits einen großen, einschüchternd wirkenden Mann namens Nick bitten müssen, ein paar seiner Leute damit zu beauftragen, den Dampfer zu bewachen. Mark befürchtete, einige der extremen Revolutionäre könnten ihn kapern und direkt in den flussaufwärts gelegenen Teil der Stadt steuern.
    Vielleicht war das ein Plan, den man in Erwägung ziehen sollte, dachte sie, als sie allmählich wieder einen klaren Kopf bekam. Selbst jetzt, da sie friedlich hier stand, fiel es ihr schwer, sich an den vergangenen Tag zu erinnern. Natürlich war sie verängstigt und beunruhigt gewesen. Aber diese Gefühle waren verdrängt worden von ihrer Freude darüber, Mark und Ben wiederzusehen, und von ihrer Überraschung in Bezug auf Cherubina. Und Theo natürlich, der liebe Theo, der viel mitgenommener und schlechter aussah, als sie es in Erinnerung hatte, aber dennoch die Zeit fand, sie mit einem Lächeln und Tränen willkommen zu heißen. Sie hatte ihn angefleht, sich auszuruhen, doch erst nach vielerlei Beteuerungen, er würde nur zu gern die ganze Nacht mit ihr reden, Cherubina und Verity hätten Wunder bei seiner Genesung bewirkt, hatte er sie verlassen, um ein paar Stunden zu schlafen.
    Endlich war sie allein, hatte Zeit, um nachzudenken und sich zu fragen, was als Nächstes geschehen sollte. Denn ganz gleich, was es sein würde, die Menschen von Agora würden ihr keine Zeit zum Ausruhen gönnen.
    »Was soll ich tun?«, flüsterte sie zu sich selbst.
    »Dreh dich einfach um und sieh mich an. Das wäre schön.«
    Die Stimme war leise und ging im Lärm der Straßen fast unter. Eigentlich hätte Lily sie gar nicht erkennen können. Doch als sie sich mit hämmerndem Herzen umdrehte, wusste sie, wer es sein musste. Laud hatte ihr gesagt, dass sie jetzt im Tempel lebte.
    »Hallo, Tante Verity«, sagte sie.
    Verity hatte sich in keiner Weise verändert. Sicher, die Fassade betriebsamer Geschäftsmäßigkeit war verschwunden. Aber diese nervöse, verwirrte Frau, die sie beim ersten Mal im Direktorium begrüßt hatte, diejenige, die die Hand ausgestreckt und ihr kurz über die Wange gestreichelt hatte – das war die Frau, die nun hinter ihr stand.
    »Du brauchst mich nicht so zu nennen«, murmelte sie und senkte den Blick. »Nach allem, was ich dir angetan habe, verdiene ich es nicht, Teil deiner Familie zu sein.«
    Lily überlegte einen Moment. Sie wollte etwas empfinden – Kränkung, Wut, ja sogar Versöhnlichkeit. Aber sie war zu

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