Das Land des letzten Orakels
Oberhand behalten, Greaves«, sagte Astrea. »Das müssen wir. Zum Wohle aller in Agora.«
»Vielleicht werden wir das, meine Lady«, sagte Greaves und schaute sich zu ihr um. Im Lichtschein der Kerze ließ sich seine Miene nicht ergründen. »Falls noch genug von uns übrig sind, wenn die Kämpfe endlich aufhören …«
Lady Astrea nahm es kaum wahr, als er schließlich ging. Sie saß noch eine ganze Weile im Büro des Direktors. Im Laufe der nächsten Stunden trafen die von ihr angeforderten Eintreiberwachen ein; es waren erfahrene Männer und Frauen, argwöhnisch und kampfbereit. Schlagstöcke hatten sie nicht dabei; der Direktor hatte sie mit Schwertern üben lassen. Sie hatte noch nie jemanden ein Schwert benutzen sehen – das hier waren keine Waffen aus eleganten Mantel-und-Degen-Geschichten. Das hier waren mächtige, schwere, brutal scharfe Waffen. Viele ihrer Feinde würden ihnen zum Opfer fallen.
Die Wachen nickten ihr zu, während sie hinter dem Mahagonischreibtisch saß, gaben aber ansonsten keinen Laut von sich. Sie hatten ihre Anweisungen, und dies waren die gleichen wie die ihren – das Direktorium und seine Geheimnisse zu beschützen. Zum fünften Mal an diesem Abend ließ sie eine Schublade des Mahagonischreibtisches aufgleiten und warf einen Blick auf den Inhalt. Zwei kleine Schachteln, gefüllt mit Glasflakons, alle etikettiert mit einem der Namen der beiden gisethischen Gefangenen. Schaudernd schob sie die Schublade wieder zu. Ob sie den Direktor jemals wirklich verstehen würde? Nicht, dass es wirklich etwas bedeutet hätte. Sie war nun seine Vertreterin; sie konnte die Verbindung niemals abbrechen lassen. Sie konnte sich nicht davon abhalten, sich für den Mann in Gefahr zu bringen, dem ihr Leben gehörte, der sie auf tausenderlei Art vernichten konnte.
Sie wünschte, ihre Kinder wären hier, doch die waren mit dem Rest der Familie aus Furcht in den Löwe-Bezirk ausgewichen und fragten sich, ob sie jemals in ihre alte, vertraute Welt würden zurückkehren können oder in einer neuen aufwachsen würden, die sie ihrer Lebensgrundlage oder gar ihres Lebens berauben würde.
Aber das lag in ihrer, Astreas Hand. Sobald die Aufständischen herausbekamen, dass Mark und Lily vermisst wurden, würden sie nur noch ein Ziel verfolgen, das wusste sie. Und sie musste darauf vorbereitet sein. Morgen würde sich in Agora alles entscheiden, so oder so.
Daher stand sie hinter ihrem Schreibtisch auf, ging auf jeden einzelnen der Eintreiber zu – obwohl sie sie kaum kannte –, bedankte sich bei ihnen, worauf diese salutierten. Schließlich ging sie davon, den Korridor entlang – die letzte Verteidigerin von Agora.
»Sollen sie kommen«, sagte sie ins Nichts hinein.
Doch bevor sie sich schlafen legen konnte, gab es noch etwas zu tun. Wie ein Geist glitt sie die Korridore entlang, tiefer in das Gebäude hinein. Sie kam an den Schreibern vorbei, die noch immer fieberhaft arbeiteten, einzig und allein ihre endlosen Aufzeichnungen im Kopf. Dann passierte sie einige mit einer Mönchskutte bekleidete Gisethis – Gäste von Vater Wolfram, die sie im Vorbeigehen lediglich anstarrten. Sie hatten ihre Geheimnisse, sie selbst hatte die ihren. Niemand hatte die Absicht, sie mit dem anderen zu teilen.
Schließlich gelangte sie an eine Eichentür mit einer Perlmuttklinke. Dieser Teil des Direktoriums wurde so gut wie nie aufgesucht. Sogar die Angestellten wussten nichts von diesem Raum. Der Direktor wahrscheinlich schon, doch wenn dem so war, dann gab es keine Anzeichen dafür, dass er hier vorbeigekommen war. Dies hier war der Gästetrakt. Die meisten hielten ihn für unbenutzt. Aber dies war der Ort, an dem sie ihr größtes Geheimnis aufbewahrte, ihre größte Schwäche.
Leise, ganz leise, öffnete sie die Tür.
»Da bin ich wieder, mein Lieber«, sagte sie.
KAPITEL 25
Befehle
Lily tat so, als schliefe sie. Nur unter diesem Vorwand konnte sie die Augen geschlossen halten.
Mark hatte gesagt, die Reise sei fast zu Ende. Nach vier langen Stunden des Abstiegs in einem Schacht unter dem Haus des Letzten und zwei weiteren Stunden Fahrt mit den gerade erst wieder reparierten Loren durch einen langen schwarzen Stollen hatten sie fast das Zentrum von Naru erreicht. Normalerweise wäre Lily vor Neugier geradezu geplatzt – selbst mit geschlossenen Augen bekam sie mit, dass sie mit phänomenaler Geschwindigkeit durch die Stollen schossen. Und sie hätte danach geschaut, ob Wolfram und Snutworth abgelenkt waren, damit
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