Das Land des letzten Orakels
zehn, und Lily konnte nicht mit Hilfe rechnen.
Nach und nach vergrößerte sie ihre Schritte. So schloss sie mit jeder Bewegung ein wenig mehr zum Dirigenten auf. Sie ging dabei langsam vor, um nicht Snutworths Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als sie dann am Mittelpunkt vorbeikamen, der mit einer Million verwirrender Farben schimmerte, ergriff Lily ihre Chance beim Schopf.
»Dirigent«, zischte sie. »Was tun Sie da?«
»Bitte nötigen Sie mich nicht, Miss Lilith«, sagte er, ohne die Stimme zu senken. »Es handelt sich hier um eine uralte Verpflichtung, die lange vor unser beider Geburt festgelegt wurde. Jeder Naruvaner muss den Richtern oder dem von ihnen bestimmten Vermittler dienen. Warum, glauben Sie, habe ich Ihnen bei Ihrer Ankunft hier geholfen? Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass es nicht nur aus Nächstenliebe heraus geschah, auch wenn ich Sie danach lieb gewann.« Nun senkte er die Stimme zu einem Flüstern. »Wenn ich meiner Bestimmung nicht nachkomme, verwirke ich das Recht, Dirigent zu sein. Und die meisten meiner Leute würden diesem Mann folgen, nur um zu sehen, was geschieht.«
Betroffen von der Resignation, die in seiner Stimme mitschwang, zog sich Lily zurück.
»Natürlich«, sagte sie mit aufkommender Bitterkeit. »Es geht mir gleich viel besser, wenn ich weiß, dass ich von jemandem verraten werde, der sich deswegen schuldig fühlt.«
Der Dirigent erwiderte nichts, ließ jedoch die Schultern hängen.
»Miss Lilith«, sagte Snutworth, ohne sich dabei umzudrehen. »Sind Sie so nett und erinnern sich an unser Gespräch übers Reden? Ein weiterer Ausrutscher wäre unklug.«
Lily ballte die Fäuste, verkniff sich aber eine Antwort. Er hatte sie in der Hand. Daran gab es nichts zu rütteln. Ganz gleich, was Snutworth vorhatte, sie durfte es nicht riskieren, Mark in diesem Zustand zu belassen.
Deshalb verlegte sie sich wieder aufs Warten und setzte beim Abstieg zur Höhle des Orakels nun einen Fuß vor den anderen, darauf hoffend, dass etwas, irgendetwas, ihr ein Zeichen geben würde, was sie tun sollte.
Doch als Snutworth den Vorhang zum Thronsaal beiseiteschob, war sie immer noch auf nichts gekommen.
Als sie die Kammer betrat, lief Lily ein Schauer über den Rücken. Nicht, dass etwas Überraschendes zu sehen gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Der Resonanzthron stand noch genauso da wie bei ihrem letzten Besuch. Da war noch immer dieses sonderbare Licht, das aus jeder Ecke leuchtete, und der gleiche rissige, aber doch stabile zum Thron hinaufführende Felssteg. Und da erklang immer noch der gleiche Ton, halb Flüstern, halb Vibration, der ihr in den Kopf drang und sich dort festsetzte wie eine böse Erinnerung, die sie nicht vergessen konnte – das Hohelied des Flüsterns, die Quelle des gesamten Wissens des Orakels.
Lily hielt den Blick abgewandt, als sie die schmale Brücke überquerte. Sie wollte das Orakel nicht ansehen, nie mehr. Doch als Snutworth vortrat und eine weit ausholende Verbeugung machte, konnte sie es sich nicht verkneifen, flüchtig hinzuschauen.
Das Orakel hatte sich die Maske nicht wieder aufgesetzt. Lily wünschte, sie hätte es getan. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter, ganz so wie das ihre und doch so anders, vollkommen abgeklärt auf sie herabblicken.
»Sie sind Snutworth, Direktor von Agora«, sagte das Orakel. Das war eine Feststellung, keine Frage. Vergeblich suchte Lily diese zu ruhige Stimme nach einem Hauch von Überraschung oder Bestürzung ab. Sie schauderte. Mark hatte wenigstens einen Grund, sich so kühl anzuhören. Ihre Mutter hatte sich selbst dazu gezwungen.
»Das bin ich«, sagte Snutworth selbstbewusst. Doch seine Anspannung war an den Händen, mit denen er seinen Gehstock umklammerte, erkennbar. »Und Sie wissen, warum ich hier bin.«
»Sie präsentieren sich als Vermittler der Richter – der gewählte Vertreter unserer Länder?« Bildete Lily sich das nur ein, oder hörte sie da einen Hauch von Widerwillen?
»Ich präsentiere gar nichts«, sagte Snutworth ruhig. »Aber wie es schon im Mitternachts-Statut heißt: Sind die Richter erst einmal übereingekommen, sollen sie entweder verfügen, die Länder selbst zu beherrschen, oder einen als ihren Stellvertreter bestimmen, ihren Vermittler. Danach sollen sie dem Orakel am Tag des Urteils diese Entscheidung vorlegen, und der Vermittler soll unseren Auftrag der Perfektion mit der Hilfe allen Wissens von Naru zu Ende bringen.« Er machte eine weit ausholende Bewegung, mit der er
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