Das Land des letzten Orakels
morgen bis zu den Elendsvierteln im Fische-Bezirk vorrücken.« Sie wandte sich wieder Lady Astrea zu. »Falls Sie als amtierende Direktorin die Anweisung erteilen, könnten wir Verstärkung aus der Kaserne nachrücken lassen.«
»Waren Sie in letzter Zeit mal in der Kaserne, Poleyn?«, fragte Greaves in nach wie vor gemäßigtem Ton, aber entschieden. »Unsere Eintreiber sind überfordert damit, die Barrikaden zu halten und die Bürger in unserer Hälfte der Stadt zu schützen. Sie trauern der Zeit nach, als sich ihre Pflicht darauf beschränkte zu beschützen. Ihre Arbeitsverträge besagen, dass sie es ausschließlich mit Kriminellen und Dieben zu tun haben, nicht aber damit, die Waffen gegen ihre eigenen Familien und Freunde zu erheben.«
»Es sind Kriminelle«, blaffte Poleyn. »Jeder einzelne von ihnen. Sie haben sich dazu entschieden, unsere Herrschaft des Rechts zu bekämpfen und die halbe Stadt zu besetzen. Nach diesem Kampf werden wir sie alle vor Gericht stellen.«
»Sie alle?«, entgegnete Greaves mit hochgezogenen Augenbrauen. In dem Kerzenlicht war die Miene auf seinem zerfurchten Gesicht nicht zu deuten. »Woher wollen Sie genug Richter oder Gefängnisse bekommen? Da standen Tausende hinter den Barrikaden, die gar keine Revolution wollten, sondern einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Wir haben sie durch Aushungern in die Verzweiflung getrieben. Wir haben ihnen einen Grund zu kämpfen gegeben.«
Astrea schwieg eine Weile. Sie starrte hinauf zu den Porträts, welche an den Wänden hingen. Alle zeigten ehemalige Direktoren. Was würden sie von ihr halten? Was würden sie von Snutworth halten, der seinen Posten verließ, während in Agora das Chaos herrschte?
Aber jetzt war keine Zeit für einen Blick zurück; nun war es Zeit zu handeln.
»Sie haben ihnen die Möglichkeit gegeben, Frieden zu schließen, Greaves, und sie haben mit Gewalt darauf reagiert«, erwiderte sie. »Wir werden den Angriff fortsetzen, bis sie sich ergeben. Ihre Anführer, und nur sie, werden vor Gericht gestellt. Alle anderen Bewohner der Stadt werden begnadigt werden.«
Keiner der beiden Eintreiber wirkte glücklich, doch sie verbeugten sich beide. Astrea entspannte sich ein wenig. Zumindest im Direktorium hatte die Herrschaft des Gesetzes noch Bestand.
Poleyn salutierte. »Ma’am, möchten Sie nun den Gefangenen sehen?«
Astrea nickte, worauf Poleyn in ihre Pfeife blies. Das schrille Geräusch kratzte an Astreas ohnehin zerrütteten Nerven. Die massiven ebenholzfarbenen Türflügel am Ende des Büros schwangen auf, und vier stämmige Eintreiber führten den Gefangenen im Polizeigriff herein. Es war ein großer, brutal wirkender Mann, und trotz der Ketten, mit denen ihm Hände und Füße gebunden waren, war Astrea heilfroh, dass die Wachen bei ihm blieben.
Der Gefangene wurde zu Boden geworfen.
»Schauen Sie zur amtierenden Direktorin auf, Gefangener«, bellte Inspektorin Poleyn.
Der große, schwere Mann blickte hoch und kniete sich hin. »Sie müssen mir immerzu nachjagen, was, Inspektorin?«, sagte er mit anzüglichem Grinsen im Gesicht, in dem seit diesem Morgen mehrere Zahnlücken klafften. »Das Volk wird sprechen.«
Angewidert wandte sich Poleyn von ihm ab. »Er nennt sich Nick, Ma’am. Er war Credes direkter Stellvertreter und ist einer der Anführer der Aufständischen.«
Nick schnaubte. »Nimm besser mal deine Spione unter die Lupe, Mädchen. Das ist Schnee von gestern.«
Poleyn wirbelte mit erhobenem Schlagstock herum und zog Nick damit eins über den Schädel. Greaves runzelte die Stirn, und Astrea zuckte zusammen. Sie hatte nichts dagegen, dass dieser brutale Kerl einen Dämpfer erhielt, war jedoch Gewalt in ihrer Gegenwart nicht gewohnt.
»Sie sind still , es sei denn, Sie werden befragt!«, sagte Poleyn böse.
Nick stemmte sich erneut hoch. Sein Kopf schwankte ein wenig, doch seine Augen blickten klar.
»Ja«, sagte Lady Astrea, bemüht, die Kontrolle über die Situation zu übernehmen. »Wir wissen, dass Sie nicht der einzige Anführer sind, leider. Aber sowohl Mr Mark als auch Miss Lilith sind in unserer Hand, und Sie können viel Blutvergießen vermeiden, wenn Sie Ihre Leute dazu ermutigen, damit aufzuhören, zu …«
»Sie glauben, ich könnte sie jetzt noch aufhalten?«
Poleyn umklammerte erneut ihren Schlagstock, doch Greaves fiel ihr in den Arm und hielt sie zurück.
»Wir wollen uns mit Mr Nick unterhalten, Inspektorin«, sagte er geduldig. »Vielleicht sollten wir ihn
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