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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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sie ihre Fluchtchancen berechnen konnte, wenn sie erst einmal ihr Ziel erreicht hatten.
    Aber das konnte sie nicht, denn wenn sie ihre Augen öffnete, wusste sie, was sie sehen würde. Sie würde Wolfram vorn im Karren stehen sehen – stumm, aber voll unterdrückter Energie. Sie würde Snutworth sehen, den Blick auf nichts geheftet, seine Gedanken unmöglich zu ergründen.
    Und sie würde Marks ausdruckslosem Blick begegnen. Es war schon schlimm genug, wenn sie seine Stimme hörte. Sie hatte zwar die gleiche Tonlage wie zuvor, aber ihre ganze Musik war verschwunden. Ihn anzuschauen war noch schlimmer – er war kaum mehr als eine wandelnde Leiche, die vergessen hatte, mit dem Atmen aufzuhören.
    Ab und zu fragte sie sich, warum Snutworth ihr nicht das Gleiche angetan hatte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihr die Hände zu fesseln. Denn Marks Gefühle befanden sich nun alle in Flakons in einem Beutel, den Snutworth in seiner Tasche aufbewahrte, und sie wusste, dass er nicht zögern würde, die Fläschchen zu zerstören, wenn sie einen Fehler machte. Und dann wäre Mark praktisch tot.
    Ohne Vorwarnung kam der Karren mit kreischenden Bremsen abrupt zum Stehen, sodass Lily kopfüber hinfiel. Taumelnd richtete sie sich wieder auf. Falls Snutworth gestürzt war, konnte sie vielleicht …
    Aber nein. Wolfram raffte sich bereits fluchend langsam wieder auf. Mark lag auf dem Boden des Karrens wie eine Marionette mit abgeschnittenen Fäden. Snutworth hingegen hatte sein Gleichgewicht bewahrt und lehnte lässig auf seinem Gehstock mit dem silbernen Knauf. Sanft klopfte er gegen die Tasche in seinem Mantel. Lily hörte das zerbrechliche Klirren der winzigen Glasflaschen.
    »Keine Sorge, Miss Lily. Ich bin nicht so ungeschickt« – er warf einen Blick auf Wolfram – »wie andere. Stehen Sie auf, Mann, wir sind gleich da.«
    Mit angeschlagener Würde rappelte sich Wolfram endgültig auf und zerrte Mark am Handgelenk hoch.
    »Sie tun mir weh«, sagte Mark. »Lassen Sie mich los.«
    »Halt den Mund, oder ich werde dir noch mehr wehtun«, sagte Wolfram mit ebensolcher Direktheit. Mark schwieg.
    Sie gingen nun den letzten Abschnitt des dunklen Stollens hinab. Lily versuchte, sich nicht davon irritieren zu lassen, dass ihre Schritte keinen Laut verursachten. Ob Laud sich wohl auch so gefühlt hatte, als er die ersten Schritte nach Naru hinein gemacht hatte?
    Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Brust. In der Situation, in der sie sich befand, tat der Gedanke an Laud weh. Ob es ihm gut ging? Was würde Laud tun, wenn er merkte, dass sie vermisst wurde? Natürlich machte sie sich über alle Sorgen – Ben, Theo, ja sogar Cherubina. Aber Laud war bei ihr gewesen, als es ihr am schlechtesten gegangen war. Laud war dazu bereit gewesen, wochenlang durch Stollen und Sümpfe zu marschieren, um sie zu finden. Er würde eine Dummheit begehen, und das wäre dann ihre Schuld.
    Am schlimmsten war, dass sie sogar hoffte, er würde es tun. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es für ihn etwas Wichtigeres gab.
    Zerstreut ließ sie ihre Hand in Marks gleiten und hielt sie fest. Er reagierte nicht, schlang nicht einmal seine Finger in die ihren. Aber es war immerhin etwas. Sie brauchte das Gefühl, dass sie nicht allein war.
    »Nebenbei bemerkt, Miss Lilith«, sagte Snutworth, während sie sich dem Ende des Stollens näherten und das Licht aus der als Essenssaal genutzten Höhle sichtbar wurde, »möchte ich erwähnen, dass Sie während unseres Aufenthalts in Naru nicht sprechen dürfen. Kein einziges Wort. Mir ist wohl bewusst, dass Sie mit diesen Leuten Zeit verbracht haben und ihnen womöglich eine kodierte Nachricht übermitteln möchten.« Er drehte sich um und begegnete ihrem Blick, höflich wie immer. »Sobald Sie ein Wort aussprechen, um das ich Sie nicht gebeten habe, werden die Fläschchen mit Mr Marks Gefühlen zerstört werden. Darf ich Sie zudem daran erinnern, dass er Ihnen in seinem gegenwärtigen Zustand wohl kaum zu Hilfe kommen wird und dass der Einsatz körperlicher Gewalt für Vater Wolfram und mich, auch wenn wir nicht mehr in der Blüte unserer Jugend stehen, keinesfalls unter unserer Würde ist.« Um seinem Argument Nachdruck zu verleihen, drehte er den Knauf seines Gehstocks und zog daran, worauf fünf, sechs Zentimeter der darin verborgenen langen Klinge zum Vorschein kamen. »Das ist natürlich plump, aber ich war nie jemand, der seine Feinde unterschätzt

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