Das Land des letzten Orakels
beobachtete, wie Snutworth sie losband. Die Knoten sahen sehr robust aus. Er fragte sich, ob der Direktor das Seil eigens dafür besorgt hatte.
Mark bemerkte, dass Lily, nachdem sie losgebunden worden war, zu ihm herübergelaufen war und sich an ihn klammerte. Sie sagte auch etwas, aber bei dem ganzen Schniefen war es kaum zu verstehen.
»Du solltest deutlicher sprechen«, sagte er ausdruckslos. »Ich verstehe dich nicht.«
»Es tut mir leid …«, sagte Lily.
Mark zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst«, erwiderte er.
Mark hörte ein Klirren und schaute auf. Der Direktor war dabei, die kleinen Flakons in einem Lederbeutel zu verstauen.
»Vater Wolfram, würden Sie Lady Astrea darüber informieren, dass sie während unserer Abwesenheit die Eintreiber befehligt? Sollte der erwartete Angriff stattfinden, weiß sie, was zu tun ist.«
Wolfram verließ den Raum. Als er die Tür öffnete, erhaschte Mark einen flüchtigen Blick auf den in dunkler Eiche getäfelten Korridor.
»Stehen Sie auf, Mark«, sagte Snutworth.
Mark tat wie ihm geheißen. Dabei merkte er, dass Lily, die ihn immer noch festhielt, zu Boden sackte. Er schaute hinunter. Verwirrt fragte er sich, ob er etwas unternehmen sollte.
»Helfen Sie ihr auf, Mark«, sagte Snutworth, während er behutsam den Lederbeutel, in dem sich alles befand, was Mark je empfunden hatte, hin und her schwenkte.
Da Mark keinen Grund sah, es nicht zu tun, hielt er Lily die Hand entgegen, und Lily nahm sie und zog sich hoch.
Wutentbrannt starrte sie Snutworth an. »Was nun?«, fragte sie mit stockender Stimme.
Snutworth lächelte. »Sobald Vater Wolfram zurück ist, werden wir vier eine kleine Reise unternehmen, hinunter in das Land der Geheimnisse. Und ihr beide werdet die Pflicht erfüllen, die euch hundert Jahre vor eurer Geburt auferlegt wurde.« Mit funkelnden Augen beugte er sich auf seinen Gehstock gestützt vor. »Ihre werdet die letzte Prophezeiung des Mitternachts-Statuts erfüllen.«
Mark spürte, dass sich Lilys Hand aus irgendeinem Grund in der seinen anspannte.
Er hatte keinen blassen Schimmer, warum.
KAPITEL 24
Der Anführer
Lady Astrea saß im Büro des Direktors und starrte auf ihre Hände. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von diesem Moment geträumt – hinter dem Mahagonischreibtisch zu sitzen, die gesamte Stadt unter ihrer Befehlsgewalt. Natürlich hatte sie sich vorgestellt, sie wäre zum Direktor ernannt worden und müsste nicht, während der tatsächliche Direktor verschwunden war, die Stellung gegen eine Stadt voller Revolutionäre halten.
Das Leben konnte wirklich Enttäuschungen bereithalten.
»Meine Lady?«
Sie blickte auf. Vor ihr standen zwei Eintreiber, beide in mitternachtsblauen, mit silbernen und goldenen Tressen geschmückten Uniformen. Die junge Frau hatte zahlreiche blaue Flecken, erweckte jedoch trotz ihrer Erschöpfung den Eindruck, weiterhin bereit zum Kampf zu sein. Der Mann war älter und wirkte bedächtiger. Seine Uniform war makellos, aber er war ja im Verlauf der letzten Monate auch an seinen Schreibtisch im Direktorium zurückbeordert worden. Sie seufzte; leicht würde diese Zusammenkunft nicht werden.
Sie hatte die Berichte von beiden gelesen. Der Kampf im Zwillinge-Bezirk war brutal gewesen, hatte sich über Häuser, Läden und Tavernen erstreckt. Die Eintreiber waren zwar zahlenmäßig überlegen, kämpften aber lediglich mit Schlagstöcken, während sich die Verteidiger mit zerbrochenen Flaschen und Messern bewaffnet hatten. Keine der beiden Seiten war gut dabei weggekommen. Es war den Umstürzlern gelungen, eine neue Barrikade tief im Stier-Bezirk zu errichten. Bis sich die Eintreiber wieder neu formiert hatten, war die Sonne bereits lange untergegangen; trotzdem war niemandem nach Schlafen zumute.
»Wie viele Eintreiber sind uns noch geblieben, Inspektorin Poleyn?«, fragte sie die junge Frau, die zackig salutierte.
»Die genaue Zahl lässt sich schwer sagen, Ma’am, da wir beim Scharmützel im Zwillinge-Bezirk ein paar Verluste erlitten haben.«
»Verluste?«, fragte Chefinspektor Greaves, der ältere Mann, der vom Rang her Poleyns Vorgesetzter war. »Bitte, Inspektorin, lassen Sie uns hier nichts beschönigen. Nennen Sie sie die Zahl der Toten. Unsere toten Männer und Frauen.«
»Bei allem Respekt, Sir«, entgegnete Poleyn, der es gelang, das Wort »Sir« wie eine Beleidigung klingen zu lassen, »die Verluste waren geringer als erwartet. Wir könnten leicht weiter Terrain gewinnen, vielleicht schon
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