Das Land des letzten Orakels
am ganzen Körper. »Sie haben sie mir wieder genommen … Immer wenn ich glaube, ich hätte sie gefunden, ist sie wieder weg … sie ist weg, und ich konnte sie nicht beschützen …«
In diesem Moment begriff Ben. Sie nahm ihren Bruder an den Händen und beugte sich dicht zu ihm vor.
»Sie ist nicht weg«, sagte sie liebevoll. »Nicht für immer. Vielleicht täuscht sich der Captain. Und selbst wenn sie nicht hier ist, sind wir jetzt so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gibt. Hunderte Menschen verlassen sich darauf, dass wir ihnen die Türen des Direktoriums öffnen. Vielleicht gibt es ja einen Hintereingang? Oder einen Stollen, den sie vergessen haben zu bewachen? Komm schon – es muss da doch etwas geben.« Sie drückte ihm die Hände. »Lily würde auch nicht aufgeben.«
Laud holte tief Luft. Als er die Augen wieder öffnete, zeigte sich erneut die alte Entschlossenheit auf seinem Gesicht. »Also gut«, sagte er und blickte sich um. »Du versuchst es mit diesem Flur, ich mit dem dort. Denk daran, versuch so zu wirken, als hättest du ein Ziel.«
Ben versuchte zu lächeln, doch für Worte war nun keine Zeit mehr. Sie hörten bereits das Durcheinander hinten im Korridor. Zwar hatten sie einander versprochen, sich nicht zu trennen, aber jetzt waren ihre ganzen Pläne nutzlos. Falls Poleyn sie erwischte, bezweifelte Ben, dass sie auch nur ein Gerichtsverfahren bekommen würden.
Als sie die von Kerzen erleuchteten Gänge entlanghastete, flackerten durch den Luftzug die Flammen und warfen Schatten an die Wände. Ben klopfte an unzählige Türen, öffnete die Eingänge von verstaubten Bibliotheken und Büros. Gelegentlich stieß sie dabei auf einen Sachbearbeiter oder Sekretär, wiegelte deren überängstliche Fragen jedoch mit einer Handbewegung ab und fragte stattdessen mit gebieterischer Stimme nach Lady Astrea. Niemand wusste, wo sie sich aufhielt, bis schließlich ein erschrockener alter Mann, der sich als Sekretär des Direktors ausgab, davon sprach, er habe gesehen, wie sie in Richtung des Gästetrakts gegangen sei, und ihr den Weg dorthin wies.
Sogar hier, tief im Herzen des Gebäudes, konnte sie noch das gedämpfte, aber lauter werdende Geräusch des Aufruhrs hören. Zudem war da ein klopfendes Geräusch. Hämmerte da jemand gegen das Eingangsportal? Sie lief weiter, bis sie sich in einem Korridor befand, in dem elegante Wandteppiche hingen. Es sah so aus, als sei dies der Gästetrakt. Sie ging weiter durch den Gang und legte das Ohr gegen eine der Türen, um womöglich Lady Astreas kultivierte Stimme zu vernehmen. Aber dahinter herrschte nur Stille.
Schließlich gelangte sie ans Ende des Korridors. Hier gab es nur eine Tür, und diese erregte Bens Aufmerksamkeit. Die letzten Türen, an denen sie vorbeigekommen war, waren schlicht und einfach gewesen, wahrscheinlich die Eingänge zu Lagerräumen. Diese hingegen war aus wunderschön geschnitzter Eiche gefertigt und hatte eine auffällige Perlmuttklinke.
Ben legte das Ohr an die Tür. Dort drinnen ging mit Sicherheit etwas vor. Sie vernahm ein leises Grollen. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit, gerade so weit, dass sie hineinspähen konnte.
Dahinter lag ein prächtig möbliertes, von einem großen Himmelbett dominiertes Zimmer. Im Raum war es dunkel, doch der durch die Tür einfallende Lichtschein beleuchtete einen schlafenden Mann auf dem Bett.
Er wirkte klein und eingefallen. Selbst sein Schnarchen – das Grollen, das Ben zuvor vernommen hatte – klang matt. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie wusste, dass sie weitersuchen sollte, denn jemand, der in solchem Luxus untergebracht war, konnte kein Gefangener sein. Doch ihre Neugier gewann die Oberhand. Sie öffnete die Tür ein wenig weiter, bemüht, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen, ohne ihn aufzuwecken.
Aber … das war doch …
»Meine Lady, sind Sie das?«
Die Stimme klang tief und kräftig, und Ben erkannte sie sofort wieder. Vor ein paar Monaten wäre sie froh gewesen, Chefinspektor Greaves’ Stimme zu hören. Im Moment jedoch nicht. Die Stimme erklang hinter ihr, tiefer im Korridor.
»Lady Astrea, Ma’am. Es wird nach Ihnen verlangt!«
Das war Inspektorin Poleyn. Die Gestalt auf dem Bett bewegte sich unbehaglich. Ben wusste, dass sie sich niemals dort drinnen würde verbergen können, und schloss daher die Tür so rasch sie konnte. Verzweifelt schaute sie sich um, während die Schritte immer näher kamen. Der
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