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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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raubte. Ben sah, dass Poleyn nach ihrem Schlagstock griff, und schaute sich hektisch um. Ihr Blick fiel auf die Kerze.
    Ben stürzte sich auf sie, packte sie, bevor Poleyn begreifen konnte, was sie vorhatte, und hielt die brennende Kerze unter das Handgelenk der Inspektorin. Poleyn schrie auf, als das heiße Wachs ihre Haut verbrannte, und ließ ihren Schlagstock fallen, der mit einem klappernden Geräusch auf dem Boden landete. Schäumend vor Wut ging sie auf Ben los.
    Greaves nutzte die Gelegenheit. Er rammte sie mit seinem ganzen Körpergewicht und beförderte sie in die Zelle, in der zuvor Elespeth eingesperrt gewesen war. Dann schlug er die Eisentür zu, langte nach dem Schlüssel und drehte ihn mit einem klickenden Geräusch um.
    Eine ganze Weile lehnten er und Ben nach Luft ringend an der Wand. Sie hörten, wie Poleyn von innen gegen die Tür hämmerte. Als wäre nichts geschehen, richtete sich der Chefinspektor auf und wirkte geradezu heiter.
    »Also«, sagte er geschäftsmäßig, während er sich Owain und Elespeth zuwandte. »Wann wurden Sie dieser himmelschreienden Vorgehensweise ausgesetzt?«
    »Vor zweiundzwanzig Stunden und dreiundvierzig Minuten«, erwiderte Owain ausdruckslos. Elespeth stöhnte nur.
    Greaves nickte. »Also ist noch Zeit. Hoffen wir, dass der Direktor die in Flaschen gefüllten Gefühle in seinem Schreibtisch aufbewahrt. Er wird sie ja nicht weggeworfen haben. Er nicht. Wir könnten unseren Gästen mithin wohl noch rechtzeitig ihre Gefühle zurückgeben. Meines Wissens ist die Wirkung erst nach einem vollen Tag von endgültiger Dauer …«
    Greaves war schon halb durch die Tür, bevor Ben wieder in der Lage war zu sprechen.
    »Aber … ich …«, stammelte sie.
    »Keine Zeit, Miss Benedicta«, sagte er hastig. »In einer Hinsicht hatte Poleyn recht. Wenn wir ein Blutbad verhindern wollen, müssen wir rasch handeln.«
    In der Ferne war ein durchdringendes knirschendes Geräusch zu vernehmen und ein Heulen wie von einem tollwütigen wilden Tier. Die Angreifer hatten die Türen aufgebrochen.
    Greaves rieb sich die Nase. »Also, das könnte die Angelegenheit nun verkomplizieren …«
    Die Aufständischen kannten keine Gnade. Sie strömten in die Korridore und verursachten mit tausendfachem Getrampel ein heilloses Durcheinander in diesen heiligen Hallen. Als Ben zu ihnen aufschloss, sah sie die brennenden Fackeln. Einer der alten Wandteppiche in dem Korridor schwelte bereits, und Qualm waberte durch die Luft. Ben drängte sich nach vorn, indem sie ihre kleine Gestalt zwischen den Leibern hindurchquetschte. Sie dankte den Sternen dafür, dass sie wieder ihre eigenen Kleider trug und dass Greaves eine andere Strecke durch das Direktorium genommen hatte. Diese Horde hätte jeden zerrissen, der eine Eintreiberuniform trug.
    Aber es war nicht ganz so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Nicht alle schrien und fluchten. Einige jubelten, andere weinten, während sie vorwärtsliefen. Das hier war kein Mob, der nur aus abgebrühten Strolchen bestand, sondern es waren Kinder unter ihnen, alte Frauen, sogar einige, die in den prächtigen Tüchern der Oberen der Gesellschaft gekleidet waren. Ganz Agora war hier und forderte, endlich Mitsprache zu bekommen.
    Doch als Ben sich zur Spitze der Menschenmenge durchgekämpft hatte, bis in das Vorzimmer zum Büro des Direktors, merkte sie, dass die Situation hier brenzlig war. Denn hier befanden sich die wahren Aufrührer – Credes frühere Kumpane. Einige von ihnen schlugen gegen die alte Eichentür, die den Weg in das innere Heiligtum versperrte. Andere türmten Schriftrollen und Bücher übereinander, einhundert Jahre alte Aufzeichnungen des Direktoriums. Während Ben machtlos zuschaute, hielt jemand seine Fackel an den Berg von Papieren, und diese gingen in Flammen auf. Prompt verdichtete sich der Qualm in den Korridoren. Zu ihrem Entsetzen sah sie dann die Gefangenen. Es waren benommen wirkende Angestellte, einige wenige Eintreiber niederen Ranges und sogar der Sekretär des Direktors. Sie waren gefesselt worden und vollkommen verängstigt und wurden nun in Richtung der Flammen ihrer eigenen Bücher gedrängt. Ben hörte sie würgen und sah den Schweiß auf ihren Gesichtern, während die Menge einen Sprechchor anstimmte. Verbrennt sie , riefen die Leute. Verbrennt sie mit ihren Worten. Agora ist frei … frei … frei …
    Ben machte Anstalten, ihnen zuzurufen, dies sei nicht ihr Weg. Doch das stimmte nicht. Es war Credes Weg. Ein Weg, den viele von ihnen

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