Das Land des letzten Orakels
Korridor war schmal, und der einzige Weg hinaus führte geradewegs auf die beiden zu. Ben machte sich darauf gefasst loszurennen und zu versuchen, an ihnen so schnell vorbeizuhuschen, dass sie sie nicht würden verfolgen können. Eine große Chance hatte sie nicht, aber sie würde sich nicht ergeben, ohne Widerstand geleistet zu haben.
Dann jedoch fiel ihr zu ihrer Erleichterung noch eine andere Tür ins Auge, die sich halb verborgen in der Holzvertäfelung befand. Ben huschte in ihre Richtung und drückte die Klinke herunter. Die Tür schwang auf.
Einen stummen Dank an alle Sterne ausstoßend, tauchte sie in den dunklen Raum ein und drückte die Tür hinter sich zu.
Während ihr Herzschlag ihr in den Ohren hämmerte, lehnte sie sich gegen die Tür.
Da bewegte sich etwas in dem Raum.
Erst jetzt ging ihr auf, dass es nicht besonders klug gewesen war, sich in einem vollkommen dunklen Raum zu verstecken. Das durch die Türritzen hereinfallende Licht reichte nur wenige Schritte weit. Sie konnte lediglich eine Kerze und eine Zunderbüchse auf dem Rand eines Tisches erkennen.
Erneut war ein Geräusch zu vernehmen, dieses Mal lauter, so als werfe sich jemand gegen eine Metalltür. Mit unsicheren Händen tastete Ben nach der Zunderbüchse und versuchte eine Flamme zu schlagen.
Der erste Lichtblitz beleuchtete etwas auf der anderen Seite des Raums. Etwas auf einem Stuhl. Sie versuchte es erneut und schaffte es nun, die Kerze zu entzünden. Sie hielt sie hoch.
Ein Paar blinder, toter Augen starrte sie an.
Ben fuhr zurück, gab jedoch keinen Laut von sich. Das hätte sie verraten. Nach wie vor starrten diese Augen sie an. Und sie hatte sich getäuscht, denn sie waren alles andere als tot.
Auf einem Holzstuhl am anderen Ende des Raums saß ein junger Mann. Er war groß, braun gebrannt, von kräftiger Statur und in grobes Tuch gekleidet. Und er schaute sie direkt an.
Der Mann regte sich nicht. Ben tat dies ebenfalls nicht, doch ihre Gedanken rasten. Hier stimmte doch etwas nicht. Warum hatte er nichts gesagt? Warum hatte er keinen Alarm geschlagen?
Wieso saß er hier im Dunkeln?
»Wer bist du?«, flüsterte sie. Draußen vernahm sie Greaves’ und Poleyns Stimmen. Sie sprachen lauter miteinander, so als würden sie streiten.
Der junge Mann sah sie teilnahmslos an. »Owain«, antwortete er.
Ben fuhr zusammen. Das konnte nicht sein. Laud hatte Owain als einen der freundlichsten Menschen beschrieben, denen er je begegnet war. Diese Person hingegen schaute sie an, als wäre sie eine Wand.
Sie wollte gerade etwas sagen, als es zu ihrer Rechten wieder einen Schlag tat. Sie leuchtete mit der Kerze. Dieser Raum war zwar überraschend spärlich möbliert, wies jedoch eine zweite Tür auf, eine massiv wirkende Metalltür. In ihrem Schloss steckte ein Schlüssel, und die Metalltür erbebte, so als würde von der anderen Seite etwas dagegen geworfen.
»Was ist das?«, flüsterte Ben.
Der Mann, der sich Owain nannte, zuckte die Achseln. »Das ist Elespeth. Sie ist jetzt schon seit Stunden dort drinnen.«
Entsetzt von seiner Abgestumpftheit stellte Ben die Kerze zur Seite, drehte den Schlüssel im Schloss und zog die Metalltür auf. Eine Frau mittleren Alters, deren langes schwarzes Haar ihr unordentlich übers Gesicht fiel, wäre aus der dahinter liegenden Zelle fast durch die Türöffnung hereingefallen. Die Hände hatte man ihr hinter dem Rücken gefesselt und den Mund fest geknebelt. Als sie ihren verstörten Gesichtsausdruck sah, nahm Ben ihr den Knebel ab.
Elespeth schrie gellend.
Ben tat alles, was sie konnte, um sie davon abzuhalten, versuchte sogar, die Frau erneut zu knebeln, doch es war bereits zu spät. Die Tür zum Korridor flog auf.
Zumindest Greaves schien es zu bedauern, sie zu sehen. Poleyn hingegen erweckte den Eindruck, als wolle sie sofort zur Exekution schreiten.
»Spione!«, fauchte sie, während sie in den Raum schritt. Elespeth wollte sich auf sie stürzen, doch ihre Hände waren immer noch gefesselt, und Poleyn fällte sie mit einem einzigen gezielten Schlag. Elespeth schlug unsanft auf dem Boden auf und krümmte sich vor Schmerz. Ben schreckte zurück. Für ihre Stellung hatte Poleyn sonst seltsam feinfühlig und kultiviert gewirkt, doch seit dem Angriff auf die Barrikade war davon nichts mehr übrig geblieben. Sie hatte ein blaues Auge, ihre Uniform war ramponiert und schmutzig, und sie sah nun aus wie jeder andere Eintreiber auf der Straße, der zu allem fähig war.
»War das nötig,
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