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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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warum Snutworth Naru brauchte, wo er doch Herrscher über Agora war und sogar eine Reihe der Mönche befehligte, die Herr über Giseth waren. Das war doch wohl genug, oder?
    Aber das war es eben nicht. Snutworth strebte nicht die Macht des Gesetzes oder über Armeen an. Ein solcher Herrscher konnte stürzen wie die Direktoren vor ihm. Snutworth herrschte mittels Wissen, indem er seine Umgebung manipulierte – die Geheimnisse derer, die ihn umgaben, waren sein Werkzeug.
    Und jetzt würde Snutworth alles wissen. Jede noch so kleine Schwäche würde offenbart werden, bis ins Kleinste würde ihm alles von allen zugetragen werden. Machtlos sah Lily, wie sich das Orakel erhob und vom Thron hinabstieg. Sie sah, wie Snutworth Wolfram seinen Gehstock reichte, auf den Stufen zum Thron an ihrer Mutter vorbeiging und sich dann setzte. Einen Moment lang schloss er die Augen, während ein schmerzerfüllter Ausdruck seine Gesichtszüge zerfurchte. Dann lächelte er. Es war womöglich das erste aufrichtige Lächeln, das sie jemals auf seinem Gesicht wahrgenommen hatte.
    »Wolfram«, sagte er leise. Seine Stimme ließ das Hohelied aufwallen und wieder verebben. »Bleiben Sie noch eine Weile; ich muss Ihnen noch Anweisungen geben. Alle anderen gehen einstweilen.« Er schaute den Dirigenten an und deutete in seine Richtung. »Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen sich vorbereiten. Es gibt viele Orte, die Sie bereisen müssen, so viele Menschen, die Sie treffen müssen …« Er nickte, während er auf etwas lauschte, das zu leise war, als dass die anderen es hätten verstehen können. »Sagen Sie ihnen, was sie hören müssen.«
    Der Dirigent verbeugte sich. »Wie Sie befehlen, Orakel.«
    Lily merkte, wie all ihre Gefühle sie verließen, obwohl Mark nun zu ihr zurückkehrte. Sie fühlte sich benommen. Snutworth war jetzt das Orakel. Er besaß alles Wissen von dem Hohelied, jeden Gedanken in jedem Land, seit der Waage-Bund erstmals über das Meer gekommen war. Er pflegte einen eigenen Kult, wie er das Flüstern verbreitete. Was sie tat, spielte keine Rolle. Es spielte keine Rolle, was irgendwer tat. Snutworth konnte die Welt beherrschen, ohne seinen Thron verlassen zu müssen.
    »Lily … was geht da vor sich?«, fragte Mark, der nun endlich seine Stimme wiederfand.
    Lily blickte zu Boden. »Er hat gewonnen, Mark«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Er hat gewonnen.«

KAPITEL 26
    Der Sturm
    Ben zog den Kragen ihrer Eintreiberuniform weit nach oben, während sie inmitten ihrer »Streife« durch die Straßen eilte.
    Sie war noch immer auf der Flucht vor den Kämpfen auf dem großen Marktplatz. Unerwartet heftig und brutal vorgehend hatten die Revolutionäre zur siebten Stunde des Morgens die Barrikaden gestürmt, genau in dem Moment, als die Glocken der Uhr auf dem großen Marktplatz verklangen. Laud hatte im Morgengrauen angreifen wollen, doch Theo hatte darauf hingewiesen, dass die Eintreiber bei Tagesanbruch Schichtwechsel hatten und es zu diesem Zeitpunkt dann doppelt so viele Verteidiger geben würde.
    Der Plan war aufgegangen. Die Eintreiber waren so davon in Anspruch genommen, im Zwillinge- und Stier-Bezirk vorzurücken, dass sie auf dem großen Marktplatz lediglich symbolischen Widerstand leisten konnten. Hinter sich vernahm Ben die revolutionären Streitkräfte, die nun Einzelteile der Barrikade beiseitewarfen, um sich durch die Lücke in den anderen Teil der Stadt zu zwängen. Die Straßen waren menschenleer; die noch verbliebenen Oberen der Gesellschaft versteckten sich, und in dem Tumult war der auf dem Rückzug befindlichen Eintreiberstreife nicht aufgefallen, dass zwei in ihrer Mitte nicht zu ihnen gehörten und dass deren erst am Abend zuvor von Cherubina genähte Uniformen verdächtig neu waren und keine Kampfspuren aufwiesen.
    Ben beeilte sich, um zu Laud aufzuschließen und ihn durch Zeichen zu ermahnen, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dieser erteilte jedoch bereits den anderen Eintreibern in barschem Ton Befehle und wies sie an, sich aufzuteilen. Zum Glück schien sein Vorhaben von Erfolg gekrönt zu sein. Sie waren bereits dicht vor ihrem Ziel, und die Streife zerstreute sich in verschiedene Straßen, bis nur noch sie beide übrig waren und schließlich auf den Platz vor dem Direktorium traten.
    Ehrfürchtig verweilten sie einen kurzen Moment. Trotz allem hatte das Empfangsdirektorium nichts von seiner Pracht verloren. Seine gewaltige graue Steinfassade mit den alten Holztüren strahlte eine Macht

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