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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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enthielt immer noch ein oder zwei Tropfen tiefblauer Flüssigkeit. Mitternachtsblau. Nun, das passte ja.
    »Es tut mir leid, Mark«, fuhr Lily fort, halb an sich selbst gerichtet. »Ich wollte ihm nicht helfen, aber ich konnte es nicht ertragen, dich so zu sehen.« Sie schaute zum Orakel hinüber und kniff die Augen zu. »Ich konnte es nicht ertragen, dich so gefühllos zu sehen wie sie.« Wütend stand Lily auf, den Blick nach wie vor auf ihre Mutter gerichtet. »Warum gibst du uns nicht irgendetwas?«, fragte sie. »Du hast viele Jahre auf diesem Thron gesessen. Ist da denn gar nichts, was du gehört hast, nichts, was dazu führen würde, dass die Naruvaner sich gegen ihn wenden?«
    »Nichts«, erwiderte das Orakel schließlich. Ohne die Echos klang ihre Stimme schwach. »Er hat sich auf die Rechte des Statuts berufen. Wir leben und sterben nach seinen Vorschriften.«
    Nachdenklich drehte Mark das letzte Fläschchen in der Hand.
    »Aber was geschieht jetzt?«, hakte Lily nach, während sie sich hinkniete, um ihrer Mutter in die Augen zu blicken. »Was geschieht nach dem Tag des Urteils?«
    Das Gesicht des Orakels blieb vollkommen reglos. »Nichts«, sagte sie. »Die letzten Befehle lauten, dem Vermittler der Richter Folge zu leisten. Das Experiment ist beendet. Wir haben unsere Bestimmung erfüllt.«
    Lilys Lippe bebte, doch in ihren Augen lag kalte Verachtung. »Wofür ist dann dein ganzes Wissen gut ?«, fragte sie. »Was nützt es in seinen Händen? Ist das wirklich das, was sich der Waage-Bund vorgestellt hat? Einen Mann, dessen einziges Verlangen es ist, mit dem Leben anderer zu spielen? Ist das das Endresultat ihres großartigen Projekts?« Sie verzog das Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. »Ich glaube, da ist wohl etwas schiefgegangen.«
    Das Orakel starrte sie an. Einen Augenblick glaubte Mark, etwas zu sehen. Ein winziges Zucken in ihrem Gesicht – aus Wut oder Reue. Dann aber war es verschwunden, und sie nickte nur.
    »So sei es«, sagte sie.
    Lily wandte sich ab und schlang die Arme um ihren Körper. Mark ging auf die ältere Frau zu, doch Lily ergriff seinen Arm.
    »Spar dir die Mühe, Mark«, sagte Lily scharf, den Tränen nahe. »Sie wird uns nie helfen.«
    Mark schaute das Orakel an. Der Flakon in seiner Hand funkelte. »Vielleicht braucht sie ein wenig Motivation«, sagte er, als ihm eine Idee kam.
    Mark kniete sich vor das Orakel. Sie richtete ihren Blick auf ihn.
    »Was hast du vor …?«, fragte sie. Sie kam nicht dazu, ihre Frage zu beenden.
    Mit einer jähen Bewegung packte Mark sie am Kinn, öffnete das Fläschchen und kippte ihr den letzten Tropfen seines Gefühls auf die Zunge. Es zischte, und dichter blauer Dampf stieg auf. Der Tropfen floss ihr die Kehle hinunter.
    Lily starrte auf die Szene. »Mark«, stieß sie hervor. »Was hast du getan? Das war für dich bestimmt!«
    »Ich habe das meiste davon bekommen«, sagte Mark, bemüht, sich überzeugter anzuhören, als er war. »Ich spüre keinen Unterschied. Ein oder zwei Tropfen Reue spielen für mich keine Rolle, ich habe genug davon.« Er beobachtete das Orakel. Ganz langsam fingen ihre Schultern an zu zittern, und Tränen traten ihr in die Augen. Er nickte befriedigt. »Die Frage ist, Orakel, kannst du das Gleiche von dir sagen?«
    Das Orakel öffnete den Mund, schien aber Mühe zu haben, ihre Stimme zu erheben. Sie griff nach ihm, wobei ihre Hände unkontrolliert zuckten.
    »Was … hast du … du … ich …?«
    Ihre Stimme verwandelte sich in ein Stöhnen und dann in Wehklagen. Tränen rannen ihr die Wangen hinab. Ihr Körper zog sich krampfhaft zusammen. Entsetzt packte Mark sie, um zu verhindern, dass sie sich den Kopf anschlug, und Lily ließ sich auf den Boden nieder, um zu helfen.
    »Das wollte ich nicht!«, rief Mark über das Geräusch ihres Jammerns hinweg. »Ich dachte nur … ein kleines bisschen Reue könnte ihr helfen, die Dinge so zu sehen wie wir. Das war nicht einmal ein Viertel der ganzen Dosis, das dürfte nicht solch große Auswirkungen haben …«
    »Hast du eine Ahnung, wie lange sie diese Gefühle schon unterdrückt?«, stieß Lily hervor.
    Mark schluckte. »Nein«, gab er zu.
    »Ich auch nicht«, erwiderte Lily. »Aber sie hat sich nicht an mich erinnert, also müssen es mindestens sechzehn Jahre sein …«
    »Ich wollte mich an dich erinnern.«
    Lily und Mark starrten auf das Orakel hinab. Sie hatte Mühe zu sprechen, und ihre Stimme klang erstickt vor Schluchzen.
    »Ich … wollte dich nicht aufgeben«,

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