Das Land des letzten Orakels
nicht aufgegeben hatten, ganz gleich, wofür sie angeblich kämpften. Als Ben Luft holte, füllte Rauch ihre Lunge; sie musste husten, und ihr kamen die Tränen, während die altgedienten Angestellten immer dichter an die Flammen gedrängt wurden.
»Es reicht!«
Theo trat aus dem Dunkel heraus. Als die Menschen ihn sahen, hörte einer nach dem anderen auf zu skandieren. Er war nicht Mark oder Lily, aber sie alle erkannten ihn – den Doktor aus dem Tempel, der nicht aufgegeben hatte, nicht einmal, als er an der Schwelle des Todes gestanden hatte.
»Schaut euch an!«, rief Theo. »Ist es das, wofür ihr gekämpft habt? Für das Recht auf Rache? Ist das der Grund, warum ihr euch uns angeschlossen habt, um die Barrikaden niederzureißen?«
Alle Augen waren auf Theo gerichtet, aber nicht alle schauten freundlich. Zwei der Rädelsführer, ein verheiratetes Diebespärchen, gingen auf den Doktor zu. Beide hatten ein ähnliches Grinsen aufgesetzt.
»Ja, das ist es«, sagte die Frau und verschränkte die Arme.
»Wir werden Ihren Angriffsplänen folgen, Doktor«, fuhr der Mann fort, während er Theo mit seiner Fackel vor der Nase herumfuchtelte, »aber wer sagt, dass wir auf alles hören müssen, was Sie sagen? Es gibt keine Anführer mehr. Schon gar nicht sind es die Söhne der Vornehmen.«
In der Menge war leise zustimmendes Raunen zu hören. Die meisten aber waren verstummt. Theo blickte mit kühler Verachtung auf das Paar hinab. Dann erhob er das Wort.
»Ihr hört jetzt auf mich, nicht wahr?«
Die Frau machte ein böses Gesicht. »Nicht mehr lange, Mann. Nicht mehr lange.«
Zur allgemeinen Überraschung lächelte Theo. »Ihr braucht auch nicht lange zuhören. Bloß eine Minute. So lange, bis meine Freunde verhindern können, dass aus euch Barbaren werden …«
Die Rädelsführer schauten sich plötzlich um, doch es war bereits zu spät. Die Gefangenen waren freigelassen worden. Ben, die scharfe Augen hatte, konnte gerade noch Pete und Cherubina ausmachen, die nun wieder in dem verräucherten Halbdunkel verschwanden und die flüchtenden Angestellten in Sicherheit brachten. Im Raum erklangen alarmierte Rufe, doch Theo gab dem Paar und seinen Anhängern nicht die Zeit zum Reagieren. Er setzte seine Rede fort, und seine Stimme durchschnitt das Tohuwabohu.
»Wendet euch gegen mich, wenn ihr müsst«, sagte Theo und lenkte damit ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Ja, ich habe euch hereingelegt. Und das würde ich wieder tun. Ein Arzt weiß, wann er zu einer Radikalkur greifen muss, um das Gift aufzuhalten.« Mit wütendem Knurren trat das Paar näher an Theo heran. Doch keiner der anderen schloss sich den beiden an. Die Menge schien unentschlossen. Diese beiden wirkten nun nicht mehr wie Anführer. Sie wirkten wie Narren. Seinerseits unsicher geworden wandte sich der Mann seiner Frau zu, worauf diese ihm die Fackel aus der Hand nahm.
»Und was passiert jetzt, Dr. Theophilus?«, fragte sie, so viel Verachtung in seinen langen, vornehmen Namen legend, wie sie nur konnte. »Was tut ein Arzt, wenn er eine Gruppe von Rebellen anführt?«
Theo schaute ihr über die Schulter und lächelte. »Manchmal muss man nur warten«, erwiderte er.
Ein lautes Knarren ertönte.
Alle Köpfe drehten sich.
Die Tür zum Büro des Direktors ging auf.
Im ersten Moment war Ben begeistert. Sie sah Inspektor Greaves, der einen Schlüsselbund in der Hand hielt und den einen Türflügel aufklappte. Laud riss derweil den anderen auf und blickte sie kurz triumphierend an. So war Greaves also dem Mob entkommen. Laud hatte ihm geholfen – Eintreiber und Revolutionär hatten Hand in Hand gearbeitet.
Dann sah sie, was sie hinter der Tür erwartete, und ihr Glücksgefühl erstarb. Das Licht von den brennenden Büchern spiegelte sich auf den schimmernden Schwertern, die Lady Astreas Wachen in der Hand hielten.
Es war ein aussichtsloser Kampf, bei dem Hunderte von Rebellen lediglich zwanzig Wachen gegenüberstanden. Diese aber blickten so entschlossen, dass an einem kein Zweifel bestand: Die ersten, die angriffen, würden auch die ersten sein, die starben. Gefangene würden sie keine machen. Und keiner der Revolutionäre war offenbar bereit, als erster vorzutreten.
In dem Kreis aus Stahlklingen saß Lady Astrea hinter einem großen Mahagonischreibtisch. Die Lordoberrichterin unterschrieb gerade ein Dokument; ihre Finger umfassten den Federkiel steif und angespannt, doch sie hatte sich sichtbar dazu entschlossen, den Rebellen nicht die Genugtuung zu
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