Das Land des letzten Orakels
verschaffen, ihnen ihre Angst zu zeigen. Der Moment zog sich ewig hin. Niemand rührte sich, abgesehen davon, dass der von den brennenden Büchern zur hohen Holzdecke aufsteigende Qualm einige zum Husten brachte.
Schließlich sprach Lady Astrea. »Ich glaube nicht, dass ihr einen Termin habt, Bürger«, sagte sie.
»Meine Lady«, begann Greaves. »Das hier ist nicht nötig …«
»Sie sind ein Verräter, Chefinspektor«, unterbrach sie ihn würdevoll. »Betrachten Sie sich als Ihres Amtes enthoben.«
Greaves verbeugte sich. »Bei allem Respekt, meine Lady«, sagte er. »Ich habe meinen Treueeid nicht auf Sie oder den Direktor abgelegt. Ich habe auf Agora und seine Bewohner geschworen. Ich bedaure nur, dass die Handlungen des Direktors mir dies nicht schon früher klargemacht haben.«
»Sie können sich jeder Ausrede bedienen, die Sie wollen, Greaves, warum Sie sich mit diesen Barbaren verbündet haben, aber Sie tragen dann mit Schuld daran, Agora zu Fall gebracht zu haben. Das wird für immer auf Ihrem Gewissen lasten.«
Ben erinnerte sich an den kleinen Raum, auf den sie gestoßen war, kurz bevor sie Owain und Elespeth entdeckt hatte. An die kleine Tür mit der Perlmuttklinke und an den Anblick, der sich ihr geboten hatte, als sie sie geöffnet hatte.
»Wir sind keine Barbaren«, rief Laud, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. » Wir verdrehen die Wahrheit nicht und berauben auch niemanden seiner Gefühle. Wir wollten keine Macht, wir wollten bloß unser Leben weiterleben …«
Lady Astrea lachte. »Macht ist alles , was ihr wollt«, sagte sie und erhob sich. »Wärt ihr zufrieden damit, keine Macht zu haben, würdet ihr jede Ungerechtigkeit akzeptieren. Ihr würdet das Beste aus dem machen, was ihr habt, statt zu kämpfen. Ich kenne mich aus mit Macht, junger Mann. Macht ist alles.«
»Das glaube ich nicht, meine Lady.«
Einen kleinen Moment blickte sich Ben wie alle anderen um, um zu sehen, wer da gesprochen hatte. Dann begriff sie, dass es ihre eigene Stimme gewesen war. Sie hatte gesprochen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Und sie wusste auch, warum.
»Ich glaube es nicht«, fuhr Ben fort, »weil ich in Ihr geheimes Zimmer geschaut habe.«
Lady Astrea zog die Augenbrauen hoch, erwiderte jedoch nichts. Die Menge war mucksmäuschenstill.
»Ich habe ihn gesehen, meine Lady«, erklärte Ben und versuchte sich an einem Lächeln. »Ich habe Lord Ruthven gesehen. Ihren Gatten.«
Nun huschte ein Ausdruck von Besorgnis über ihr Gesicht, und ihre Maske des Hochmuts bekam Risse. »Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Lady Astrea und richtete sich stolz auf. »Ich werde nicht durch meinen Gatten definiert. Dass ich mich entschieden habe, ihn in Sicherheit zu bringen, als er in Ungnade fiel und beinahe durch euer Gesindel hingerichtet worden wäre, ändert nichts daran.«
»Es ändert alles«, erwiderte Ben. »Es beweist nämlich, dass Ihnen noch etwas anderes als Macht wichtig ist.«
Lady Astrea lachte bitter. »Persönlich habe ich eine Schwäche, ja. Aber ich bin jetzt Agora. Ich bin die Hüterin der Vergangenheit und der Zukunft der Stadt. Persönliche Angelegenheiten spielen da keine Rolle mehr. Mein Gatte hätte nicht weniger erwartet. Ich würde nicht weniger erwarten.«
Ben nahm wahr, dass Theo sich neben sie stellte.
»Meine Lady«, sagte der Doktor, »Sie müssen zugeben, dass Sie nicht gewinnen können. Wenn wir wollten, könnten wir Sie dazu zwingen zurückzutreten. Ja, wir würden dabei Verletzungen und Schmerz hinnehmen müssen, doch dies wäre nicht schlimmer als das, was wir Tag für Tag unseres Lebens erfahren haben. Wir haben Leid, Hunger und Gewalt erduldet, und wir sind jetzt so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gibt.« Theos Miene verhärtete sich. »Riechen Sie den Rauch, meine Lady? Gegenwärtig zügeln einige von uns noch ihre Wut – wir versuchen mit vernünftigen Worten und List dagegen anzugehen. Aber wenn Sie uns erneut die Stirn bieten, werden wir mit purer Verzweiflung kämpfen. Ohne Ehre, ohne Gewissen. Sie werden fallen, Ihr Gatte wird fallen, Ihre Leute werden fallen. Aber Ihre Leute sind auch unsere Leute.« Er seufzte. »So viel ist zerstört worden, meine Lady. So viele wurden schon verletzt. Alles, was wir wollen, ist Hoffnung.«
Lady Astrea musterte ihn. Ihr Blick war durchdringend. »Wir hätten gar nichts mehr«, sagte sie mit bebender Stimme. »Keine Sicherheit, kein Gesetz. Sie verlangen von mir, eine perfekte Stadt zu beseitigen,
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