Das Land des letzten Orakels
stammelte sie. »Aber ich musste. Ich sollte Orakel werden, die größte Ehre, die einem Gisethi zuteilwerden kann. Es muss immer ein Gisethi sein. Naruvanern fehlt die Erkenntnis, und Agoraner würden die Geheimnisse zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen. Ein Orakel muss scharfsichtig sein, unparteiisch … kühl.« Sie schmiegte sich an Lily. »Um Orakel zu sein, muss man alles hinter sich lassen, was einen ausmacht, damit der Alptraum es nicht dazu verwenden kann, die Echos tödlich werden zu lassen. Man kann nicht dasitzen und eine Million zerbrochener Träume und ruinierter Leben wahrnehmen, wenn einem eines davon etwas bedeutet. Man kann nicht auf ewig auf seinem Thron hocken bleiben, wenn man weiß, wie es ist zu leben.« Sie griff nach Lilys Haaren, und ein mattes Lächeln überzog ihr verweintes Gesicht. »Was für wunderschönes Haar du hast, schon seit deiner Geburt. Ich kann mich jetzt daran erinnern. Aber ich war bereits auserwählt worden. Thomas wollte, dass ich nach deiner Geburt bleibe, wenigstens noch ein paar Tage, aber ich hatte eine Pflicht … meine Pflicht … o Sterne und Himmel, vergebt mir …«
Das Orakel klammerte sich an Lily, und ihr Schluchzen verstärkte sich. Mark trat zurück und scharrte mit den Füßen über den Boden. Er wünschte, er wäre woanders. Das hier war etwas Persönliches, und er war hier fehl am Platz. Stattdessen blieb er verlegen in der Nähe stehen, während das Schluchzen allmählich verebbte.
»Danke, Mark«, sagte das Orakel mit noch immer zitternder Stimme. Mark drehte sich um. Zum ersten Mal schaute ihn das Orakel mit echter Wärme an. »Ich denke, ich sollte das sagen, solange ich es noch kann.« Der Ton ihrer Stimme veränderte sich. Sie griff nach Lilys Gesicht und drehte es in ihre Richtung. »Ich spüre, wie mich dieses fremde Gefühl langsam wieder verlässt. Falls es etwas gibt, was du die Frau fragen möchtest, die ich war, etwas, das du von Helen d’Annain wissen musst, dann solltest du schnell fragen.«
Lily blickte erstaunt; sie machte den Mund auf, doch es drang kein Laut über ihre Lippen. Heftig schluckend stellte sie dann ihre Frage.
»Hast du mich jemals geliebt?«
Das Orakel senkte den Blick. »Nicht genug, Lily. Nicht genug, um auf meine große Pflicht zu verzichten.« Sie schaute zu ihrer Tochter auf. Frische Tränen bildeten schimmernde Linien auf ihren Wangen. »Erst jetzt.«
Lily hielt ihre Mutter und schwieg. Sie hielt sie, bis die letzte Wärme aus ihrem Gesicht gewichen war. Als Lily wieder aufstand und sich ihr Kleid glattstrich, zeigte ihre Mutter keinerlei Gefühle mehr, war nur eine kalte, makellose Hülle.
Lily ging zu Mark hinüber, und dieser drückte ihre Hand.
»Hör zu, Lily …«, begann er.
Doch sie schüttelte den Kopf. »Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu sprechen«, sagte sie sanft. »Jetzt müssen wir Snutworth aufhalten, und das Orakel hat uns gerade verraten, wie wir das tun können.«
Mark runzelte die Stirn. »Wirklich?«, fragte er.
Lily nickte mit leuchtenden Augen. »Snutworth sitzt jetzt zwar auf dem Resonanzthron, hat sein früheres Leben jedoch nicht vergessen. Orakel müssen das aber.«
»Aber das macht ihn doch nur noch gefährlicher …«
Lily schnitt Mark das Wort ab. »Genau! Du weißt doch noch, was passiert ist, als ich herausfand, wer sie wirklich war«, sagte Lily und deutete dabei auf die in sich zusammengesunkene Gestalt des Orakels. »Die ganze Höhle hat gebebt, weil sie etwas durch diese Erinnerung empfunden hat. Tja, dann stell dir mal vor, wie Snutworth empfindet. Er hat sich das jetzt schon sein ganzes Leben lang gewünscht.«
Allmählich begriff Mark, worauf sie hinauswollte. Ein Schauer der Erregung lief ihm den Rücken hinunter.
»Du meinst, wenn er mitgerissen wird, dreht das Hohelied durch?«
»Ich habe kaum die Oberfläche des Hohelieds berührt und hätte fast den Verstand verloren«, fuhr Lily fort. Mark konnte geradezu sehen, wie die Rädchen in ihrem Gehirn ratterten. »Denk mal darüber nach, diese Millionen von Gedanken, und selbst er kann nicht über alles den Überblick behalten. Nicht, wenn er auch noch versucht, an seinem eigenen Geist festzuhalten.«
»Snutworth hat sich noch nie in seinem Leben wirklich für etwas interessiert. Meinst du wirklich, er fängt jetzt damit an?«
»Vielleicht nicht«, sinnierte Lily. »Aber vielleicht können wir ein wenig Verwirrung stiften und versuchen, ob wir diese ganzen Gedanken dazu benutzen können, ihn zu überwältigen,
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