Das Land des letzten Orakels
er mir gerade erzählt, dass wir nun, da Snutworth Direktor ist, vorsichtig vorgehen müssen …«
Als Cherubina Marks Gesichtsausdruck sah, verstummte sie.
»Du hast Crede von Snutworth erzählt?«, flüsterte Mark. »Du hast ihm erzählt, wer du bist?«
Trotzig verschränkte Cherubina die Arme. »Das ist mein Geheimnis«, sagte sie. »Ich kann es verraten, wem ich will.«
Mark starrte sie ungläubig an. »Hast du irgendeine Vorstellung, was er mit diesem Wissen alles tun könnte?«, fragte er sie leise.
»Natürlich habe ich das«, erwiderte Cherubina eindringlich. »Er hat es mir selbst gesagt. Im Moment haben die Leute Angst vor dem Direktor – sie halten ihn für einen Mythos, für allmächtig.« Mark hörte einen Anflug von Crede aus ihren Worten heraus, so als wiederholte sie etwas, das er gesagt hatte. »Aber sobald sie erfahren, dass er ein ganz gewöhnlicher Mensch ist …«
»Ein gewöhnlicher Mensch?«, unterbrach Mark sie und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Vor ein paar Jahren war er mein Diener, und jetzt ist er der Herrscher über die Stadt! An ihm ist nichts Gewöhnliches, und das weißt du auch. Wie auch immer, das nimmt ihm nichts von seiner Macht – oder hast du die Eintreiber vergessen? Dad meint, sie haben ihre Übungen verstärkt. Einige von ihnen üben sogar mit Schwertern und nicht mehr mit Knüppeln. Glaubst du wirklich, dass Credes Schlägertrupp gegen sie ankommen kann?«
»Du meinst also, wir sollten überhaupt nichts unternehmen?« Überrascht stellte Mark fest, dass Cherubina feuchte Augen hatte. Sie weinte beinahe, doch ihre Stimme klang noch immer bedrohlich.
Behutsam legte Mark ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich meine, du solltest dich nicht auf das hier einlassen. Ich hasse Snutworth genauso wie du, aber du kannst dich nicht immer nur mit ihm beschäftigen. Du bist entkommen, du musst jetzt dein eigenes Leben leben …«
Cherubina begegnete seinem Blick. »Und wie kann ich das?«, fragte sie leise. »Indem ich alles tue, was du sagst?«
Betroffen zog Mark seine Hand zurück, doch Cherubina blieb stur. Steif wandte sie ihm den Rücken zu.
»Ich muss jetzt wieder zurück«, sagte sie und deutete dabei auf die Menge, die sie beide noch immer nicht beachtete, sondern von Crede hingerissen war. »Er möchte mich einigen Neuen vorstellen.«
»Du bist für ihn bloß ein Werkzeug«, protestierte Mark schwach.
Cherubina drehte sich nicht um. »Mag sein«, räumte sie ein, »aber er bewirkt wenigstens etwas Gutes. Er sitzt nicht zu Hause herum und wartet darauf, dass Daddy zu Besuch kommt. Er kann mich beschützen.« Sie blickte über die Schulter. Ihr Ärger schien verraucht zu sein; sie wirkte nun traurig, fast enttäuscht. »Warum gehst du nicht? Crede verteilt Brot, und wir haben kaum etwas zum Einhandeln. Ich würde dich ja fragen, ob du mitkommst, aber er gibt Almosen nur an Männer der Tat.«
Bevor Mark antworten konnte, ging sie davon und mischte sich unter die Menge.
Mark war sprachlos. Dies blieb noch so, als er die verräucherte Bar verließ, während der Lärm von Credes Reden ihm in den Ohren dröhnte. Und es blieb auch noch so, als er durch die Straßen schlich und zu ihrem leeren Haus zurückkehrte.
Und es blieb sogar noch während des Abends so, als die Eintreiber vorbeigingen und dabei die neue Glocke, die die Ausgangssperre verkündete, läuteten. Alles, was ihm blieb, war ein Wust an Gedanken über Cherubinas Sicherheit und seine eigene Unfähigkeit zu entscheiden, was er tun sollte. Aber das spielte zu diesem Zeitpunkt auch keine Rolle mehr.
Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Cherubina nicht mehr zurückkehren würde.
KAPITEL 5
Harmonien
Lily wusste nicht mehr, wo sie sich befand.
Nach jedem Aufwachen, wenn sie ihre Laterne entzündete, sah sie felsige Durchgänge, die sich nach beiden Seiten ins Dunkel erstreckten. Nahmen die Tunnel denn gar kein Ende mehr?
Es war schwer zu sagen, wie lange sie und ihre neuen Freunde bereits unterwegs waren; nach dieser einen Begegnung hatten sie ihre Verfolger nicht mehr gesehen. Sie hatten fünfzehn Mal geschlafen, so viel stand fest, aber ob dies irgendeinen Zusammenhang mit Tag oder Nacht hatte, ließ sich unmöglich sagen. Lily war ständig müde, aber angesichts des fortwährenden Gehens und weil sie gezwungen war, auf nacktem Felsgestein zu schlafen, konnte dies kaum überraschen.
Am zweiten »Tag« waren sie auf ein Versteck mit Laternenöl gestoßen, und Lily hatte ihre eigene Laterne
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